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2. Guttings
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Felix Stössinger.
Tausenden nur vier lyrisch gedachte und gefühlte Verse geschrieben. Im 6. Ge¬
sang der Ilias, als Glaukos, der Sohn des Hippolochos, die Geschlechter der
Menschen mit den Blättern im Walde vergleicht: „einige streuet der Wind
auf die Erd' hin, andere wieder treibt der knospende Wald, erzeugt in des
Frühlinges Wärme: so der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes ver¬
schwindet“ Hier hat der ichter alle Distanz verloren und das Epos
subjektivisiert, in Lyrik getauscht. Aber rasch arbeitet er sich aus dieser Ge¬
fühlsumkettung heraus und kündet gemeinhin und stolz den Ruhm der Menschen¬
geschlechter. Wohl haben die Großen also Anleihen, soweit es die Tendenz ihrer
Kunstgattungen forderte, gemacht, ihr Naturell vielleicht gar nicht zu unterdrücken
gesucht, aber sie haben nicht ihr ganzes Kapital in Anleihen anlegen müssen,
was den unumstößlichen Beweis einer zwitterhaften Begabung erbringt.
Noch immer kann ein feines Talent dieses künstlerische Defizit durch
gewandte Formbeherrschung decken. Ein Lyriker z. B., wenn er die innere
Weibheit seiner zarten Seelenempfindung, den Nuancenreichtum seines inneren
Resonanzvermögens in kurze Novelletts, Skizzen und rhythmisch gegliederte
Aphorismen kleiden kann. So handelt Peter Altenberg. Er ist die empfind¬
samste, lyrischste Persönlichkeit der Jungwiener (neben Schnitzler) und kann
dennoch nie sein vornehmlich lyrisches Gefühl, seinen Stimmungsreichtum in
die rhythmische Versform der Lyrik gliedern. Er hat Verse geschrieben, aber
sie snd so kalt, als ob sie von Hagedorn, Gellert, Gleim, Az, Karschin wären.
Dann kehrt er in den Stammbereich seiner Begabung zurück: und mit leichter
ironischer Epigrammatik, mit graziöser Dialogkunst (feingeschliffenen Spiegelungen
seiner Empfindung), grotesken Weltschmerz und snobistischer Denkart, weiß er
den Effekt vollkommenster Lyrik zu erzielen. Er nennt sich das könend ge¬
wordene, stumme Frauenherz und ist doch nur ein stummer Lyriker. Einer,
dessen Innenleben reich ist an phantastischen Gestalten, ein feinfühliger Poet,
dem organische Formungskraft fehlt. Was allen tot erscheint, birgt für ihn
noch blühendes Leben, zeigt sich ihm farbig und reich, so daß dem
Lyriker das trostloseste Sein zur Lust wird. So empfindet es Altenberg
für sich, so für andere. Für Hamsun hat er deswegen die wahlverwandte
Sympathie, die sich in einem Aufruf sehr hübsch äußert. Was Hamsun zum
Doeten macht, ist derselbe Altenbergische Empfindungsreichtum. Auch er ist
Reinlyriker, auch er mit Bewußtsein Zwitterkünstler. Er löst eine Stimmung
in alle Partikelchen auf, zwingt der Amwelt die subjektivste Empfindung auf
und dehnt diesen Vorgang in einen Roman aus. Aber Reinepik fehlt. Episch
ist bei ihm nur der jeder Lyrik notwendig verbundene Bewegungstrieb der
zeitlichen oder räumlichen Veränderung oder des schwingenden, wogenden
Gleitens um einen Dunkt. „Hunger“ und „Dan“ sind klassische Zwitterkunst¬
werke dieser Art. Ein lyrischer Zyklus würde auf einige Seiten alles zu
bannen wissen, wozu Hamsun einen starken Band braucht. Eine Empfindung
wird zu Beginn bezeichnet und nun wie ein Thema endlos variiert und dennoch
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