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aber auf der Höhe seines Ruhmes gestanden hat. Hieraus allein
ist die so ganz verschiedenartige Aufnahme beider Werke zu er¬
box 37/4
2. Cuttings
erklären. Hätte Schnitzler, umgekehrt statt mit dem „Anatol“ mit
dem „Medardus“ begonnen: er hätte kaum einen Verleger und
Aganz gewiß keine Bühne dafür gefunden. Und wenn der „Medar¬
dus“ durch seinen lauten und goldklingenden Erfolg auch dem
„Anatol“ in jüngster Zeit zu einer nachträglichen Genugtnung ver¬
holfen hat, und dieser heuer ebenso in Berlin die Szene beherrscht
wie der „Medardus“ in Wien, so ist das im Grunde nicht mehr als
recht und billig gewesen, denn der „Anatol“ ist es eigentlich, dem
der „Medardus“ seinen Erfolg zu danken hat, wenngleich nicht un¬
mittelbar. Aber der „Anatol“ ist bei der „Liebelei“ zu Gevatter ge¬
standen, und die „Liebelei“ hat Schnitzlers Ruhm begründet. Man
darf demnach getrost behaupten, daß der Beifall und der goldene
Regen, der über den „Medardus“ niedergegangen ist, eigentlich dem
Dichter des „Anatol“ gegolten hat. ...
Für das Publikum ist Schnitzler eben vor allem der geistreiche
Erotiker, als den es ihn zuerst kennen gelernt hat, der liebens¬
Wenden!
Telephon 13601.
würdige Anwalt des „süßen Mädels“, der in den Intimitäten der
Chambres particuliers und Garconwohnungen so gut Bescheid
4
„ODEERVEK
halb traurige Dinge zu erzählen weiß. Für das Publikum ist er
I. österr. behördl. konz. Unternehmen
geradezu identisch mit dem melancholisch angehauchten Lebemann,
für Zeltungs-Ausschnitte und Bibliographien
den er unter dem Namen Anatol in die Literatur eingeführt hat
und in dem es ihn selber zu erkennen glaubt, so daß es in diesem
Wien, I. Concordiaplatz 4
Namen nichts anderes sieht als ein Pfeudonym für den des
Vertretungen
Dichters.
in Berlin, Budapest, Chicago, Christiania, Genk,
Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minne¬
Der aber war mit dieser Auffassung offenbar durchaus nicht
apolis, New-York, Paris, Rom, San Franoisco,
einverstanden, sah darin vielmehr eine Verkennung seiner künst¬
Stockholm, St. Petersburg
lerischen Bedeutung und Absicht, eine Art Degradierung, und wollte
(Quellenengahe ohne Gewöhr.)
die Welt eines Bessern belehren, wollte ihr zeigen, daß er mehr
kann als geistreich über die Liebe plaudern und frivole Reigen
Aussch
ierrethe Zeitung, München
tanzen, wollte ihr beweisen, daß nicht das „süße Mädel“ seine Muse
istgsondern daß es Melpomene und Clio sind. Dazu glaubte er vor
29 4 1911
vom:
gkem seine Leibfarben ändern zu müssen: das feine Rosenrot der
Wiebe, dem er durch das matte Schwarz seiner Melancholie eine so
wirksame Folie zu verleihen gewußt hat; diese gefällige Doppel¬
farbe, die ihm zu so schönen Erfolgen verholfen hatte, überstrich
zer nun mit einem grellen Blutrot und einem dicken Tintenschwarz.
Und demgemäß nahm er auch eine gründliche Aenderung in der
Kunst und Literatur
Tonart seiner Werke vor, wenigstens seiner dramatischen: statt der

einschmeichelnden, zart gedämpften Walzerklänge, die man sonst
aus ihnen zu hören gewohnt war, dröhnt uns aus seinen neueren
Von fnatol bis Medardus.
Dramen ein aufdringlich lautes Tam=Tam in die Ohren, das gerade
durch den krassen Gegensatz zu der früher so diskreten Art ihres
Kritische Randglossen
Schöpfers doppelt peinlich befremden muß. Und damit man sehe,
von
daß er nicht bloß in liebesschwülen Chambres particuliers und
Theodor von Sosnosky.
Schlafzimmern zu Hause sei, streifte er seine koketien Hausschuhe ab,
schnallte sich Kothurne unter die Sohlen und schritt, nein — stelzte
Zu Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts er¬
mit tragischen Gebärden in die weite Welt hinaus. Aber ach! Man
schien in einem obskuren, seither längst zugrunde gegangenen Verlag
wandelt nicht ungestraft lange Jahre hindurch von einem Schlaf=
ein schmächtiges Bändchen, das unter dem Gesamttitel „Anatol“
zimmer ins andere, und so kam es, daß für Schnitzler das ganze“
sieben einaktige Theaterstücke enthielt und den damals literarisch
Leben, ja selbst die Weltgeschichte zum Schlafzimmer wurde. Er
ganz unbekannten Arzt Dr. Arthur Schnitzler zum Verfasser hatte.
sieht darin doch nur wieder das Milien, in dem sich die „Liebe“ ab¬
Das Buch blieb ganz unbeachtet, die Stücke unaufgeführt, und bei
spielt, oder um weniger euphemistisch und mehr shakespearisch zu
der Art jenes Verlags ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzuneh¬
sprechen, die bekannte Aktion des „Tiers mit den zwei Rücken““
men, daß der Autor nicht nur keinen Heller Honorar zu sehen be¬
Und um dieser Auffassung Geltung zu verschaffen, schreckt er vor
kommen hat, sondern auch noch einen Teil der Druckkosten bezahlt
keinem Mittel zurück, tritt er, der in seinen älteren Werken nie den
hat. Das war vor etwa 18 Jahren. Und heute? ... Heute hat
feinen Seelenkenner, den wahrheitsliebenden Arzt verleugnet hat,
desselben Verfassers Drama „Der junge Medardus“ auf der ersten
die Psychologie mit Füßen und tut der historischen Wahrheit in
deutschen Bühne einen Erfolg errungen, der, soweit die Theaterkasse,
brutaler Weise Gewalt an. Und was ist der Erfolg dieser unerhör¬
und damit auch das Portefeuille des Autors in Betracht kommt,
ten künstlerischen Wandlung? — Daß die Literatur einen Dichter
einen seit vielen Jahren, vielleicht Jahrzehnten, auf dieser Stätte
verloren und einen Tantiemen=Rentner gewonnen hat. .. Wären
nicht dagewesenen Rekord bedeutet. Und damit nicht genug: wird
diese Tantiemen nicht, so fühlte man sich versucht, diese ungeheuere
dieses Stück, von einem erstklassigen Verleger herausgegeben, auch
Selbstverkennung und Selbstentwürdigung eines feinen Geistes und
als Buch, wenigstens in Wien, so eifrig gelesen, wie sonst nur irgend
geschmackvollen Künstlers tragisch zu nennen; aber bei vollen
ein gut „gehender“ Moderoman.
Kassen gibt es keine Tragik.
Man sieht, das Schicksal der beiden Werke ist gründlich verschie¬
Wie Schnitzler früher seine eigene künstlerische Individualität
den. Und warum das? Etwa weil das eine das eines Anfängers
im Anatol personifiziert hat, so tut er dies — freilich sehr gegen
gewesen ist, das andere aber von einem reifen Künstler herrührt?
seinen Willen — jetzt im Medardus, wenigstens zeigt dieser junges
Diese Annahme liegt gewiß nahe, aber sie trifft keineswegs zu; im
Herr, dessen Leistungsfähigkeit auf dem Felde der „Liebe“ entschie¬
Gegenteil: die „Anatol“=Stücke stehen künstlerisch hoch über dem
den größer ist als auf dem der Weltgeschichte, das er sich in arger
„Medardus“=Drama, und daß der Erfolg der beiden Werke im um¬
Selbstüberschätzung erkoren hat, eine fatale Familienähnlichkeit
gekehrten Verhältnis zu ihrem Werte steht, kommt einfach daher,
mit seinem Schöpfer, der es sich unseligerweise in den Kopf gesetzt
daß der Autor, als er den „Anatol“=Zyklus veröffentlichte, ein
hat, statt des amüsanten Bonvivants, den er mit so schönem Er¬
homo novus gewesen ist, bei der Aufführung des „Medardus“
Ifolge gespielt hat und zu dem er taisächlich berufen ist, den tragi¬
schen Helden zu mimen, zu dem er nicht das geringste Talent hat. —.
Ja, es ist ein weiter Weg von Anatol zu Medardus, und wahr-)7
Hlich keiner, der nach aufwärts führt.