Faksimile

Text

——
2. Guttings box 37/5
6224 02
De
A##400,
Hütet Euch zu träumen und zu dichten!
305
Einzeluntersuchungen über Goethe, Grillparzer, Hebbel u. a. wird überzeugend
dargetan, daß nach dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht daran zu denken
ist, den Dichter und sein Schaffen nur neurotisch zu erklären: „Wir müßten erst
die „Nervosität“ des Durchschnittsmenschen sehr genau kennen, um sagen zu können,
wo das eigentlich Abnorm=Krankhafte beginnt.“ Die Ahnlichkeit gewisser
Erregungszustände des Hysterikers und des Schaffenden berechtigt durchaus zu
keiner Gleichsetzung: es ist nach Hinrichsen davor zu warnen, „eine leicht mani¬
forme Erregung nun sogleich als unbedingt spezifisch manisch anzusehen.“ Zur
Richtigstellung einer übertriebenen Wertung des Sexuellen im Künstlerischen
meint Hinrichsen mit Recht: „Nietzsche spricht einmal aus, das Geschlechtliche
des Individuums mache sich bis in die höchsten und tiefsten Spitzen seines
Geistes beinerkbar. Natürlich! Aber wir sind nicht berechtigt zu sagen, die
sexuelle Eigenart eines Individuums bestimme seine spezifisch intellektuelle.“ In
bezug auf die Sexualität des Dichters „kommt es nicht so sehr darauf an, wie
stark sie sei, als auf ihre, dichterischer Produktion günstigere oder weniger
günstige, Eigenart.“ Wir sind noch himmelweit davon entfernt, ein aus¬
reichendes Forschungsmaterial für die hier in Frage stehenden Probleme ge¬
sammelt und gesichtet zu haben. Alle zuverlässigen Maßstäbe für eine scharfe
Abgrenzung seelischer Gesundheit und Krankheit fehlen, da der „Normalmensch“
im Sinne des Psychiaters gar nicht existiert. Um so peinlicher berührt es,
wenn die Freudschule in überstürzter Hast Dogmengebäude aufführt, denen jedes
sichere Fundament fehlt. Ein Schulbeispiel bafür, wohin solche Voreiligkeit
führt, ist das Buch des Freudschülers Theodor Reik: „Arthur Schnitzler als
Psycholog“ (Minden, I. C. C. Bruns, 1914). Mit einer sehr jugendlich an¬
mutenden Gutgläubigkeit an den alleinseligmachenden Meister wird hier die
Psychoanalyse an einem lebenden Dichter und seinen Werken verübt. Das letzte
Wort zu den Entblößungen, die hier an einem Schaffenden und seinen Gestalten
vorgenommen werden, könnte natürlich nur Schnitzler selbst sprechen. Er wird
es, zum mindesten öffentlich, nicht sprechen — aus leicht begreiflichen Gründen.
Aber wenn Reik zum Schluß in prophetischen Tönen eine neue Phase der
Literaturwissenschaft ankündigt, die durch sein Buch eingeleitet werden soll, so
wird die überwiegende Mehrzahl der Dichter, und ich glaube unter ihnen auch
Schnitzler, sich für diese Neuheit bedanken. Was der Freudschule vorschwebt,
ist nichts anderes, als kraft der wunderwirkenden, unfehlbaren Deutungskunst,
deren sie sich rühmt, hinter jeder Dichtung den ungeschriebenen Text, die Beichte
des Unbewußten zu entziffern. Das heißt aber ohne Frage für die Dichter eine
sexuelle Inquisition einrichten, die durch Vermittlung eines unheimlich ausgebildeten
Spürsinns bei dem Schaffenden das, was bei jedem anderen Erdenbürger als Privat¬
sache respektiert wird, ans Licht zerren darf, indem frisch und frank sexuell determiniert
bzw. erfunden wird. Darauf gibt es nur eine Antwort: Hände weg! .
Es soll nicht geleugnet werden, daß Freud und seine Schüler für die
Erforschung des Traumlebens und der dichterischen Psyche Anregungen gegeben
Grenzboten I 1914
20
77