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Wien, eelag
sie abfallen. Die Dinge haben sich genau so entwickelt,
wie es Heine bereits für das Paris der Fünfzigerjahre
des letzten Jahrhunderts konstatierte. Er meint, es
herrsche dort ein geheimes Schutz= und Trutzbündnis
zwischen den Mittelmäßigkeiten, die das Theater
ausbeuten, und zwar sei diese Misère großzügig an¬
gelegt und zentralisiert. Die großen Dichter würden
durch die Umtriebe der Kleinen von der Bretterwelt
ferngehalten. Und mit einer Aufrichtigkeit, die
beißend ist, und mit einem Hellsehen in die
das verblüffend ist, sagt Heine,
Zukunft,
Blutsverwandter so vieler späterer Theaterdirektoren,
Vater und Vorbild so vieler späterer Stückeschreiber
und Rezensenten: „Im Grunde kann man es den kleinen
Leuten nicht verdenken, daß sie sich gegen die Invasion
der Großen so viel als möglich wehren. Was
wollt ihr bei uns, rufen sie, bleibt in eurer Lite¬
ratur und drängt euch nicht zu unseren Suppen¬
töpfen: Für euch der Ruhm, für uns das
Geld. Für euch die langen Artikel der Bewunderung,
der Anerkenntnis der Geister, die höhere Kritik, die uns
arme Schelme ganz ignoriert. Für euch der Lorbeer, für
uns der Braten, für euch der Rausch der Poesie, für
uns der Schaum des Champagners, den wir vergnüglich
schlürfen in Gesellschaft des Chefs der Claqueure und
der anständigsten Damen. Wir essen, trinken, werden
applaudiert, ausgepfiffen und vergessen, während ihr in
den Revuen beider Welten gefeiert werdet und der
erhabenen Unsterblichkeit entgegenhungert.“
Um sich des ganzen Theaterelendes der letzten Jahr¬
zehnte bewußt zu werden, muß man sich vergegen¬
wärtigen, was Führer alter und neuer Menschheits¬
kultur an die Bühne für Voraussetzungen und An¬
sprüche geknüpft haben, weiches ihre Ideale von
dramatischer Kunst waren. Im siebenten Buch der
„Gesetze“ von Plato ist die Rede von Tragödiendichtern,
die in eine Stadt kommen und um die Erlaubnis, ihre
Dramen aufführen zu dürfen, bitten. Plato läßt den
Ansuchenden durch die Stadhäupter die Antwort
werden: Wir selbst sind Dichter eines Dramas, infofern
unsere Staatsverfassung in der Nachahmung des schön¬
sten und besten Lebens besteht. Den gleichen Zweck muß
das wahrhafte Drama verfolgen. Wähnt daher nicht,
daß wir euch ohne weiteres gestatten, eure Schaubühne
auf unserem Markt aufzuschlagen. Vorher muß die zu¬
ständige Behörde prüfen, ob ihr Schickliches gedichtet
habt, ob die Ziele und Bestrebungen in euren
Werken mit den Tendenzen unserer Staatsver¬
fassung übereinstimmen. Wir und der ganze
Staat müßten völlig von Sinnen sein, wenn wir eure
Schauspieler etwa Gegensätzliches zum Geiste unserer
Einrichtungen reden ließen. Aristoteles erklärt in seiner
„Politik“, das Aufführen und Beobachten unsittlicher
Bühnendarstellungen müsse aus dem Staate verbannt
sein. Die Gesetzgeber müßten überhaupt, wenn irgend
etwas, so schändliches Gerede aus dem Staat verbannen,
weil bei leichtfertigen Reden auch schlechte Handlungen
nahelägen. Im Mittelalter bekunden Thomas von Aquin
und Bonaventura viel Verständnis für das Theater.
Sie lassen auch Stücke bloß unterhaltenden Charakters
gelten. Ludus est necessarius ad conversationem
vitae humanae. Das Spiel hat notwendige
Berechtigung im täglichen Leben sagt ersterer;
letzterer meint, Erhebung und Erfreuung finde der
Mensch im Theater. Aber bei beiden ist Voraussetzung,
daß der Geist des Spiels im Einklang mit den sozial¬
ethischen Gedanken des Christentums stehe. In Paris
gab es gegen Ende des 17. Jahrhunderts einen Theologen¬
kampf wegen der Bühne. Leibniz verteidigte damals die
Theaterkünstler in einem Epigramm, in dem es heißt: „Wißt
ihr wohl, daß in unserem Jahrhundert ein Molière so gut
Poll
mus, voller Witz und Lustigkeit; aber es ist eine auf¬ am Tage der Kriegserklärung It
bauende Kritik und hinier den Spässen lebt tiefste Sitt¬
des Saisonschlusses
Schönherr
lichkeit. Beide Dichter glauben an Ideale und sie lassen
es nicht die Ideale vergelten, wenn Menschen sie schlecht
An dem Verfall des Theaters
vertreten. Die ganz große Bühnenkunst zeigt Leiden¬
sind auch viele Gutmeinende mit
schaften; aber sie zeigt auch Gnaden und Helden; sie
weil sie ihre Proteste gegen die
malt die Wollust, aber sie malt den Teufel dazu; sie spot¬
Herzenskammer verschlossen, oder
tet, aber nicht um Gesellschaftseinrichtungen und =werte
am Stammtisch beschränkten. Das
niederzureißen, sondern um fehlende Einzelmenschen zu
so undeutsch und unchristlich werd
bessern. Ueber ihrer Erde wölbt sich der Himmel; ihren
Rätselpeinen und Erdennöten strahlt die Sonne gött¬
bei den Deutschen und Christen geg
licher Wahrheit und göttlicher Erbarmung.
unserer Theaterbesucher haben es
Präsident Taft in Washington, der
Brachte nicht der Ernst der Kriegszeit eine Aen¬
einige stark naturalistische Szenen
derung und Besserung im Theaterbetrieb, eine Annähe¬
waren, nach dem ersten Akte eines
rung zum Ideal? Wurde bei der allgemeinen Mobil¬
strativ seine Loge verließ? Wie vi
machung nicht auch das Theater mobil. gemacht im Inter¬
wie die deutsche Kaiserin, die um
esse der Reinigung, der Hebung, der Weckung des Volks¬
sittliche Entrüstung über eine Op
willens zum großen Kampf für die Heimat? Wurde
gab? Wie viele Gutmei inde h
nicht die Welt der Kunstschönheit herangezogen zur
sinnten vereint und Vereinsorgan
Unterstützung von Kanzel und Katheder, herangezogen
durch Forderung bestimmter Stü
zur Entflammung des Volkes für Kaiser und Vaterland,
einer bestimmten Besucherzahl,
für Opferdienst und Seelenstärke? Klang's nun nicht aus
Theaterspielpläne zu nehmen
allen Theaterstücken: Nichtswürdig ist die Nation, die
Adelige haben darauf gedrungen,
nicht ihr Alles setzt an ihre Ehre“ — „Das Leben ist der
Adel und Ehre nicht nur in Sch
Güter höchstes nicht, der Uebel größtes aber ist die
sondern auch in der Welt des The
Schuld“? Wurde nun auf der Bühne die Kultur der
gegengebracht werde? Wie viele Ch
Wahrheit und Freiheit, des höheren Geisteslebens und
daß das Christentum nicht nur e
der höheren Rechtsordnung, in deren Namen die Söhne
und Sakristei, sondern ein Prograf
der Heimat an die Front zogen, dem Feinde, dem Tode
rung für alle Lebensgebiete, auch
entgegen — wurde diese Kultur auf den Bühnen des
sei? Wie viele Steuerzahler hab
Hinterlandes entsprechend repräsentiert? Wurde nun
erwogen, die darin liegt, Riesenst
auch im Theater jener Gott gepriesen, in dessen Kathe¬
dung von Geistlichen und Lehrern,
dralen und Kirchen ein gramgebeugtes, ein hilfeheischen¬
Kirchen und Schulen für die Erzieh
des Volk sich drängte? Wurden nun auf der Bühne die
zuwerfen und gleichzeitig zu gestatt
Heldengestalten der Geschichte lebendig, wurden die
literarische Handelsleute sich aus d
Heroen der Vergangenheit zu Sprechern und Führern
Früchte von Schule und Kirche ei
der Gegenwart? Erklang nun der Sang von der Hei¬
schäft machen? Wie viele gutmein
mat auf der Bühne, der Sang von der Heimat mit jener
haben angesichts der frechen Anarch
Zärtlichkeit, Inbrunst und Opferwilligkeit, aus der
nen an das unheimliche Bild sich
ein Garczynski schwur: „So lange diese Hand
Taine die Macht und den Weg um
nicht erstarrt, soll diese Hand dem Vaterland
schildert: Im ersten Stock des Hause
gehören. So lange der Gedanke nicht stirbt,
bloß Abendbeleuchtungen, Salon
soll er ihm geweiht sein. Gott, Du verlangst Opfer —
Feuer, mit denen man spielt und
meinen Geist will ich zum Opfer geben, mein jetziges
dem Fenster wirft. Aber in den B#
und zukünftiges Leben. Ich will wie das Volk in der
schäftsräumen des Erdgeschosses ste
Wüste hungern, wenn nur damit dem Vaterlande ge¬
Stoffe in Brand — und im Kell
holfen werden kann. Jeder Gedanke soll fromm sein
Pulverlager...? Wie viele Schön
wie eine Hymne, meine Zunge soll den Lippen Worte
künstlerischer Erbauung sich Sehnen
Deines ewigen Lobes reichen, in Gebeten will ich die
unablässig gegen das Aufrichten v##
Nächte durchweinen, die Tage in Qualen zubringen, nur
Spelunken auf der Bühne protestic
möge mein Land befreit sein ...“ War nun auf der
sich geweigert, mit dem Trost eines
Bühne ein Triumphieren über die Siege der echten
abzufinden: „Wer die gemeinsame
Kultur, ein tröstendes, befreiendes Mitweinen mit
höchsten Geistespflege versammelt
den leidtragenden Opfern des Krieges? Raunte es nun
möchte, oder auch nur das erheben
auch im Theater: „Jedwede stille Minute mahnt's:
schenwürdiger Körperhaltung: der
Menschen sind jetzt in Not; jede stille Minute ahnt's:
das Theater, sondern in den Köln
Brüder schlägt man dir tot. Nichts denken, als dies und
besser in eine Dorfkirche, selbst w#
immer dies: Menschen in Not, Brüder dir tot, Krieg ist
Gottheit mehr glaubt. Ohne Spott:
im Land...?“ Sind angesichts des Krachens einer
ist heute das einzige Surrogat für d
Welt, angesichts des großen Sterbens, ange¬
monie, die einst aus Spießbürgern
sichts der Leichenfelder und der zertrümmerten
Stalljunkern Herren der Welt
Städte, der obdachlos gewordenen Bevölkerungs¬
Hoffen wir auf die Ergebnisse
massen und der verkrüppelten Brüder die geist¬
Tausende sind im Schützengraben,
losen Phrasendrescher und Witzmacher von der
täglicher Entbehrung, aus Spieler
Bühne verschwunden? Hat man auf der Bühne die
Kurzsichtigen geistig Reife und An
großen Opfer und Leiden der Zeit geachtet? Hat die
den. Die werden, heimgekehrt, au
große Zeit die große Kunst auf den Theatern erstehen
Ideen nicht mehr verhöhnen lassen,
lassen? — Als einst griechische Kultur schon im Nieder¬
aufleuchteten und die ihnen Schutz
gang begriffen war, schrieb Aristophanes sein Lustspiel
wurden. Tausende, durch den Anbl
„Die Frösche“, welches das Thema „Theater in der
und Trümmerstätten, der ruiniert
Kriegszeit“ behandelt. Athen ist wieder einmal in Ge¬
der weinenden Waisen im Innersten