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2. Cuttings
EGEE Wendriner, Die Dichter von 1900. Seasls8800SS8 721
Geschwisterpaares, die Prozessionen langstieliger Vergi߬
Auch Ricarda Huch begann in den neunziger Jahren
meinnicht suchen mit ihrem blauen Abglanz des Himmels
als Naturalistin, wurde aber bald die erwählte Führerin
das Tor zu erobern, und die Frau, die Sünderin, die
der Neuromantik. Von ihren wundervollen geschichtlichen
Mutter, die Göttin steigt aus der Tiefe der Welt empor
Romanen kam sie zu historischen Charakterbildern, zu
und steigt und steigt in die Ewigkeit als die, in deren
religionsphilosophischen Studien. Sie versucht, einem
gnadenlose Hände Himmel und Hölle überantwortet sind.
Freunde in Briefen Luthers Glauben verständlich zu machen,
Niemals hat Hauptmann eine Sprache geschrieben wie
sie schreitet von den Ideen des großen Reformators weiter
in diesem Buche. Niemals hat er die Natur gesehen wie
zur Deutung des Sinnes der Heiligen Schrift. „Ich habe
in jenen Tagen, da er die Liebesgeschichte des Priesters
es für die vielen geschrieben,“ sagt sie in der Vorrede zu
Francesco erlebte. Man kennt die Gestalt des Mannes,
ihrem letzten Buch, „die sagen, daß sie glauben möchten,
der Frau aus Hauptmanns Dramen. Aber in „Elga“,
daß ihnen aber viele religiöse Voraussetzungen im Wege
in „Kaiser Karls Geisel“, bleibt die Frau die Verführerin,
seien, zum Beispiel der persönliche Gott, persönliche Un¬
die Dirne, das vernichtende Prinzip. Selbst in der „Ver¬
sterblichkeit, die Wunder, die Gottheit Christi und manches
sunkenen Glocke“ scheint es fast ein Zufall, daß Rautende= andere.“ Ricarda Huch will beweisen, daß all das, was
lein die Geliebte des Glockengießers wird, ehe sie zu dem diese kritischen Frommen für Absurditäten halten, die der
Wassermann in den Brun¬
Vernunft widersprechen,
neu hinabsteigt. Im „Ketzer
vielmehr höchste Vernunft
von Soana“ findet die Frau
ist, von den Menschen un¬
findet die irdisch
serer Zeit nur deshalb mi߬
letzte Ver
verstanden, weil Leben und
den 2
Denken bei uns nicht mehr
letzte
eins ist. Sie will zeigen, daß
die Bibel uns nicht fern
liegt als ein Buch voll alter
1
orientalischer Mythen und
Geschichten, sondern daß
ihre Weisheit heute und
immer auf alle Menschen
angewendet werden kann
und soll.
Die Dichterin gibt eine
künstlerische Religionsphi¬
losophie, die sich zur Sozio¬
logie, zur Geschichts= und
Lebensphilosophie weitet.
Sie geht von den Worten
der Bibel aus. „Und Gott
der Herr spricht: Es ist
nicht gut, daß der Mensch
allein sei.“ Und spricht,
daran anknüpfend, von der
Liebe zwischen Mann und
Tem
Weib, von der Familie als
einen 9
Ausgangspunkt mensch¬
Zeit,sie
licher Gemeinschaft. Sie zi¬
ah
sal der Frauer
tiert das Bibelwort: „Ar¬
M. Schuster.
Erinnerungen. Nach einem Gemälde von Karl
ren des großen Krieges.
mut und Reichtum gib mir
Phot. Verlag Franz Hansstaengl, München.
Alle Frauen sind ihr Töch¬
nicht, laß mich aber mein
#ter der Hekuba. Sie erzählt
bescheiden Teil Speise da¬
von den Sorgen der Mütter um ihre Söhne draußen im
hinnehmen“, und kritisiert in seiner Ausdeutung die Welt¬
Schützengraben, von dem Warten und Warten Tag und
und Geldwirtschaft im kapitalistischen Zeitalter, die unchrist¬
Nacht auf eine Nachricht, das die Frauen auf den Weg des
liche Armenfürsorge in einem ungöttlichen Grundzustand.
Leichtsinns, zur Verzweiflung, ins Irrenhaus bringt. Clara
Von dem Verhältnis Gottes zu den Menschen geht sie über
Viebigs Roman spielt in einem Vorort von Berlin, man
zu dem Verhältnis der Eltern zu den Kindern, aus dem
glaubt, das alte Zehlendorf zu erkennen. Mit der großen
jenes abgeleitet ist. Sie spricht von alten isländischen
Kraft ihrer Menschenschilderung stellt sie die Generalin und
Sagen und Shakespeareschen Dramenkonflikten, von Kirche
die Bürgersfrau, die Fabrikarbeiterin und die Telephonistin,
und Staat, von mittelalterlichen Kaisern und von Friedrich
die Waschfrau und die uneheliche Mutter vor uns hin,
dem Großen, von Wallenstein und Napoleon. Sie ver¬
schildert sie den Hunger und die Verzweiflung der Men¬
gleicht den modernen Psychiater mit dem katholischen
schen, die nach Kartoffeln und Brot schreien und mit
Beichtvater und prägt das bedeutsame Wort: „Der erb¬
Siegesnachrichten gesüttert werden. Das Buch klingt mit
liche König ist nicht aus Gottes Gnaden, vielmehr wider
dem Friedensangebot vom Dezember 1916 aus. Ohne
Gottes Willen.“ Merkwürdige Bücher, überfließend vom
Ende. Wir hören nichts von dem Schicksal der Männer,
Reichtum der Gedanken, immer anregend und immer zum
Widerspruch herausfordernd. Aber man würde sich freuen,
die noch jahrelang draußen kämpfen müssen. Aber wir
wenn Ricarda Huch den Weg zur Kunst zurückfände.
spüren, wie der Tod wieder und wieder durch das kleine
Wie Ricarda Huch sind auch der aus dem Württem¬
Dorf schreiten wird, erbarmungslos, ohne Mitleid mit der
bergischen stammende Hermann Hesse und der Badenser
einsamen Mutter, mit der jungen Frau,die auf dem feind¬
Emil Strauß, die um 1900 als Schüler des Naturalis¬
lichen Boden Italiens ihren ersten Geliebten begraben hat.