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2. Cuttings
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sinnt sich nicht; wenn es Bedenken hat, so kommen
sie nicht aus dem Gehirn, sondern aus dem Gefühl.
Der Typus des süßen Mädels war neu. Aber unter
allen Surrogaten ist für Schnitzler das Surrogat Weib
das wichtigste, und er hat sich nicht damit begnügt,
einen neuen Typ zu schaffen, sondern hat auch
genial Varianten der vorhandenen gefunden. Vor
Schnitzler waren die Franzosen da. Sie haben fast
alles ausgesprochen, was vom Weib, als Surrogat
betrachtet, zu sagen war. Vom süßen Mädel wußten
sie nichts. Denn dieses war nur aus dem Wiener Bo¬
den zu schaffen. Die kleinen Freundinnen der Bohe¬
miens bei Murget sind etwas ganz anderes als diese
schnitzlerischen Mädel. Das Quartier Latin hat ein an
deres Klima als Währing oder Hernals. Aber die mon¬
daine Frau, in den Grundzügen nicht verschieden, ob
sie in Wien oder Paris lebt, die wurde schon von den
Franzosen mit fast wissenschaftlicher Genauigkeit er¬
hascht und dargestellt. Balzac hat ihre Enzyklopädie
geschrieben. Für Schnitzler blieben nur die genialen
Varianten übrig. Er hat sie gefunden. Die junge Witwe
mit dem Durst nach Erfüllung, der zur großen Ent¬
täuschung führt. Das junge Mädchen, das, von einem
Manne gebannt, sich ihm hingibt und dann ins Wasser
geht. (Das Geniale liegt freilich nicht in diesem hohen
Umriß, sondern im Detail, im Arabeskenwerk und der
Ornamentik.) Ein Reigen von Leibern mit ganz be¬
stimmten, individualisierten Köpfen, deren Züge sich
fest einprägen, manchmal freilich auch von Leibern
ohne Köpfe.
Aber das Schönste ist doch das süße Mädel.
Denken Sie sich — ein kleines, dämmeriges
Zimmer — so klein — mit gemalten Wänden — und
noch dazu etwas zu licht — ein paar alte, schlechte
Kupferstiche mit verblaßten Aufschriften hängen da
und dort. — Eine Hängelampe mit einem Schirm. -
Vor: Fenster aus, wenn es Abend wird, die Aussicht
auf die im Dunkel versinkenden Dächer und Rauch¬
länge! ... Und — wenn der Frühling kommt, da
wird der Garten gegenüber blühen und duften...
Das ist das Reich des süßen Mädels. Von ihm
erzählt Anatol Frau Gabriele, der mondainen Dame.
Und das süße Mädel ist die Seele dieses Reiches. Und
Frau Gabriele sendet dem Mädel Blumen und trägt
Anatol auf, ihr zu sagen. „Diese Blumen, mein..
süßes Mädel, schickt dir eine Frau, die vielleicht ebenso
lieben kann wie du und die den Mut dazu nicht hatte ..“
Die Doktores medicinae universae sind heutzu¬
tage sehr selten. Weit häufiger sind die Spezialisten.
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