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„uu0 vane Gewähr.)
Ausschnitt abossische Zeitung. Berhe
SURRl. 1
vom:
Berliner Stadtväter in Wien.
Von Doris Wittner.
Eine Anzähl Berliner Stadtväter, an ihrer Spitze der scheidende
Oberbürgermeistep welen in Wien, um gastfreundlich
empfangen zu werden von den Vätern der Donaustadt und mit
der dortigen Kommunalverwaltung brüderlichen Handschlag zu
tauschen. Viel Feste werden gefeiert in diesen Tagen. Und viele
Reden werden gehalten. Das herrlichste Fest aber wird die
frühlingsschwere Stadt selbst bieten, um die der Ring jetzt sein
berückendes Fliederkleid schmiegt, und jede dithyrambische Bered¬
samkeit wird besiegt werden von der Sprache der Verführung, die
Wien selbst mit tausend Zungen kündet.
Denn Wien, die Stadt mit der weiblichen Seele, ist eine Ver¬
führerin. Ist es, weil sie nicht anders kann. Weil sie zart und
zärtlich, süß und kokett heimlich und verschwiegen ist — wie eine
echte Frau. Weil sie schmollen kann und kosen, anziehen und ab¬
stoßen, hingebend und grausam sein kann — wie eine echte Frau.
Man darf nicht vergessen, eben weil sie so ist, ist sie den Beethoven
und Schubert, Grillparzer und Bauernfeld, Schwindt und Lanner
und Strauß und all den anderen himmelhochjauchzenden, zu Tobe
betrübten Künstlerseelen Mutter und — Geliebte gewesen. Um die
sie gelitten und getrotzt, gehadert und gejubelt haben. Und wenn
in diesen Tagen die Vertreter zweier blühenden Gemeinwesen den
beiden Kaiserstädten gebührende Reverenz erweisen, so sind mitten
unter ihnen die Genien all derer lebendig, die geholfen haben,
Wien groß zu machen durch ihre Liebe wie durch ihren Haß. Und
es ist zu hoffen und zu wünschen, daß ihres Geistes mehr als nur
ein Hauch verspürt werde, daß im Gegenteil die uralte Kultur und
uralte Kunst Wiens sich dem jüngeren, weitaus jüngeren nordischen
Geschwister in geschwisterlicher Zuneigung verbinde.
Vindobona — Castrum Vindobonense —, Hauptort und Stütz¬
punkt der römischen Provinz Pannonien; -
und Entwicklungsgeschichte Wiens liegen seine Entwicklungs¬
möglichkeiten eingeschlossen. Denn, wohin immer der römische
Kolonisator seinen gefürchteten Fuß setzte, dahin trug er Kultur
und Sitte, Recht und Gesetz, Wohlleben und Ueberfluß, später
allerdings auch Ueppigkeit und Verfall, Sittenlosigkeit und Fäul¬
nis. Ueber die alte Römersiedlung sind sie dann dahingebraust,
die verheerenden Ströme der wundersamsten und geheimnis¬
tiefsten Menschheitsbewegung, der Völkerwanderung. Und jeder
der halbwilden Barbarenstämme, Markomannen, Langobarden, Ost¬
goten und nicht zuletzt die Söhne der völkergeißelnden, aber träg
gewordenes Blut auspeitschenden Hunnen haben der bildsamen
Volksseele einen Eindruck hinterlassen. Mehr als nur Eindrücke
vielleicht, Vermächtnisse sogar, die tief auf dem Volksboden ruhen.
Und der Volksboden ist wie der Meeresboden. Er kann unendlich
lang schwere und ernste Geheimnisse, die Gefahren der Finsternis,
hüten, und in einer bösen Stunde kann es ihm plötzlich einfallen,
sie aufzuwirbeln und emporzuschleudern an eine erschreckte Ober¬
fläche.
existiert und der moralischen Ein
Romanische und germanische Rasse, — viele Forscher sprechen
reich spottet. Und am Ende wir
von starkem keltischen Einfluß — haben sich in Wien zu eigener
Wiener und Berliner Stadtparla
Art gemischt. Und gerade in diesem mixtum compositum des
erfahrungen zum besten geben 1
Wiener Blutes liegt vielleicht seine Stärke, sein Reiz und seine
und daß sie sich über ganz andere
Macht. Auch seine Fähigkeit des Gefälligen und der leichten An¬
und Tiefbauprobleme, Eingemei
passungen an fremde Art.
und Schwebebahnen, oder aber üb
Gutes Feld war gegeben in diesem Acker für jäh und üppig auf¬
verstorbenen Machthabers von
schießende Kultursaat. Und so kam es im Waffentanz der Jahr¬
wuchert, und des „neuen Her
hunderte dahin, daß, als das friederizianische Berlin gerade schüch¬
Mannes, der vielfach die erwarti
tern sein junges Haupt zu regen begann, Wien längst Heim= und
doch nämlich die Rosen in Wien
Pflegestätte verfeinerter Lebensart, vornehmer Gewohnungen war,
Nachtlokalen — besonders betör
die schönen Künste hätschelte und für den Genuß des Lebens seine
nirgeno so schmeichlerisch klinge
Satzungen von der Seine verschrieb. Und so kam es auch, daß
Volksmund singt und lacht: „
diese hochentwickelte, bis an die äußersten Grenzen der Leistungs¬
Ein österreichischer Poet he
fähigkeit getriebene Kultur vorzeitig ermüdete und nun über
Titel: „Das österreichische Antli
all den Dingen und Menschen zu schweben schien, die da unten in
Antlitz trägt die leuchtenden Z
der Hexenküche der Völkermischungen durcheinander schwirrten und
geschmähten Züge, in denen al
brodelten. „Es liegt ein Hauch über den Dingen, und r ist das
Austria sich gespiegelt haber u
Beste an ihnen“, hat Gerhart Hauptmann in den „Einsamen
spirationen und neue Schaffen
Menschen“ gesagt. Dieses Wort trifft das Wesen Wiens und des
Eiferer, Lästerer, die das Wort g
Wienertums zu inerst. Und zwar ist es der Schönheitshauch einer
sind hervorgegangen aus dieser
sterbenden Kultur, der in Der pastellgekönten blauen Wiener Luft
abgelegt wider sie. Die Küren
webt und schwebt. Man hat zuzeiten gemeint, es liege in diesem
die schneidendsten Waffen ihrer
Anhauch eines großen Sterbens schon ein wenig Verwesungs¬
der Heimat gekehrt. Und vor 1
geruch. Dem ist nicht so. Oder wenigstens nur in dem Sinne,
derner der vielgewandte Herm
daß aus jeder Verwesung neues Leben sprießt und im Vergehen
Streitschrift n Felde gezogen g
das neue Werden liegt.
Städten. Und doch — ihnen al
Die Berliner Stadtväter haben Gelegenheit, sich gerade davon
Wort und Waffe geführt; jen¬
zu überzeugen. Sie genießen den Zauber kultureller Abend¬
einen Inbegriff aller Vollkomm
dämmerung, dürfen aber das Bewußtsein mit forttragen, daß eben
ergrimmt, wenn sie sieht, daß F
dieser Abenddämmerung „neue Morgenröten“ folgen werden, „die
Angesicht entstellen wie jedes an
noch nicht geleuchtet haben“
Die Berliner Gäste können e
Sie schreiten über die Prunkstraße Europas, den Ring, durch
Ehren geschmückte österreichische
die alten verwinkelten Gassen der inneren Stadi, und der Pomp
daß, so wenig Alt=Wien nur
verschnörkelter Barockpaläste wie die grandseigneurale Pracht des
gemaltem Porzellan, Musik un
Wiener Gartenbaus wird ihnen die Residenz des Feudalstaats offen¬

auch im Wien des zwanzigsten I
baren, in dem bei Hof noch spanisches Zeremoniell geübt wird. Du##
fehlen, die rührig am Werke sin
aber werden sie der gewaltigen Neubauten am Franz Josephs=Kai
und reizt in ehrenden Wettbewer
gewahr, und die Wiener „Kollegen“ werden mit Fug darauf hin¬
Wenn in Wien ein großer
weisen, wieviel in der Gegenwart für die Verschönerung des Stadt¬
Zeitungen mit Trauerrand, und
bildes und die Verbesserung der Hygiene geschieht. Kunstsinnige
Graben umfloren sich. Der fi
Besucher werden durch die unerschöpflichen Schatzkammern des kunst¬
lers war für das gebildete Wi
historischen Museums streifen, worauf man sie in das Haus der
nicht zu den Eigenschaften des i
„Wiener Werkstätten“ führen und ihnen mit Stolz zeigen wird,
ein Feiertag. Mit eben dieser
welch außerordentlichen, marktbeherrschenden Aufschwung das
manischen Geschenk, empfängt
Wiener Kunstgewerbe genommen hat und wie der selbstsichere
Und zu der Verbrüderung zwe
Wiener Geschmack und die natürliche Wiener Grazie ihre Kreise weit
die Donauwellen süße Harmon
über die schwarz=gelben Grenzpfähle hinaus ziehen. Und — honny
lächelnd hinter dem Wiener!
soit qui mal y pense — manche von den Berliner Stadtvätern,
Strahlen den ehrwürdigen „S
Junggesellen und Epikuräer, werden vielleicht sogar Gelegenheit
und die Donau, die Stadt und d
nehmen, sich wissenschaftlich, will sagen aus eigener Anschauung
gefallen, weil — es in ihrer Nat
davon zu überzeugen, daß auch das Wiener Nachtleben ein Opfer
der Verleumdung ist, indem es leibhaftig und sogar sehr lebhaft1