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box 39/1
Soth Birthdar
und Gedanken? Wer weiß, was grübelt hinter einer weißen Frauen¬
stirn, die uns zugewandt ist, die wir küssen dürfen? Dieweil wir es
tun, glaubt diese Stirn eines andern Mund zu spüren. Und wir, die
wir uns kaum aufgerichtet haben aus den erglühten Armen einer ge¬
liebten Frau, begegnen auf dem Nachhauseweg einer andern von an¬
derm Geschlecht . . . und, ein neues Rätsel lockt zu Durchgründung.
Nein, Sicherheit ist nirgends, nicht sich selbst ist zu trauen.
Treue! Du glaubst an Treue und darfst doch ebensowenig wie
Anatol, der melancholische, reflektierende Viellieber, den Mut zur
Frage an das Schicksal haben: Ob sie, die im Augenblick Geliebte,
dir treu. Zum Teufel mit den Fragen, die man frei hat an das Schick¬
sal! Ist holder Selbstbetrug nicht ebenso positiv wie sogenannte Wahr¬
heit? Vielleicht ist sie dir treu — vielleicht auch nicht. Füge dich, im
Ungewissen zu leben, denn gewiß ist nichts. Und wäre sie in der be¬
fragten Minute treu — ist sie es auch morgen noch? Ist nicht alles
Lieben episodenhaft? Ist denn in der Liebe ein Wechsel auf die
Ewigkeit ausstellbar? O, wir möchten; möchten alle den Jugend¬
traum erster Liebe bannen, auf daß er uns in Treue begleite bis zum
großen Schlaf. Aber fließt uns nicht alles durch den Händen durch?
Können wir etwas halten? Und da sollten die Idealbilder geschlecht¬
licher Anziehung nicht wechseln, öfter wechseln bei Weib und Mann?
Und doch unterfangt ihr Männchen euch, bei einer Frau die Ersten
und Einzigen sein zu wollen! Kommt nicht um das Märchen' herum,
das ihr euch selbst eingeredet: das von einem andern vor euch be¬
schlafene Weib sei minderwertig. Ein fortgesetztes Begegnen und Ver¬
lieren, ein Händereichen und Händelassen ist alles Lieben. Wobei
vorkommen kann, daß an jeder Hand etwas Liebes hängen bleibt, daß
man rechts und links zu geben und zu nehmen hat. Häufig wird
zuzweit in einem süßen Frauenherz gewohnt, denn man kann, ja man
kann, Mann auch Weib, zwei Stück Menschen zugleich lieben; aber der
eine Männerich glaubt die Küsse des andern zu schmecken, und sie er¬
schlagen sich gegenseitig, wild gemacht vom physischen Ekel . .. bis die
Umdenkung erfolgt sein wird.
Mehr ist alles Lieben nicht als ein vorübergehendes Begegnen und
Verlieren. Ein Aufblühen — o ihr Tage federnden Schreitens! ein Ab¬
sterben — o ihr Wochen der herabhängenden Unterlippe! Jeder verläßt
den andern, keiner begleitet den andern bis hinein in Nacht und
Grauen. Die Einheit zweier Seelen, dieser große und höchste Lebens¬
glaube, erweist sich als grausamster aller Menschenirrtümer. Das ge¬
liebte Wesen springt von unsrer Seite ins Leben zurück, wenn die
Seele abmagert. „Und wenn ein Zug von Bacchanten uns durchs
Leben begleitet“ am einsamen Weg' stehen wir alle allein und
sprechen unsres Lebens Epilog: Dasein ist Selbstsucht, Dasein ist Ein¬
samkeit, Dasein ist Selbstbetrug. Treue! nicht einer hält sie uns,
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keinem halten wir sie . .. außer uns selbst. Denn all das, was wir
tun und was wir lassen, was wir lieben und was wir hassen, was wir
meiden und was wir fassen, iun wir unsrer selbst willen, uns zur
eigenen Glückseligkeit. Aus Instinkt sind wir treu . .. gegen uns selbst.
Und obgleich wir es wissen, mehrmals erfahren, macht uns die
Kenntnis, daß alles zerrinnt, alles zerfließt, daß alles Schein und
Lüge ist, den Daseinswerten nicht abwendig. Erst in der Eiszeit bildet
sich eine Impotenzphilosophie ... von wo der Mensch einen Blick zu¬
rückwirft und ein erinnerungsgesättigtes „Ach!“ seufzt. Aber bis da¬
hin macht einem der weibliche Mitmensch immer aufs Neue zu schaffen.
Immer wieder wird die böser Erfahrung nachgefolgte Skepsis be¬
hoben von neuer Gläubigkeit. Um wiederum nichts andres zu erlei¬
den als die prüfende und mißtrauische Durchdenkung eines bekannten
Gefühls. Man möchte wie Filippo Loschi dem geliebten Luder die
Gedanken aus der Nase ziehen, um hinter seine Träume zu geraten;
beargusaugt mit einer von Herz und Hirn zurechtgemischten Glutkälte
das andre, neben sich schlafende Leben; bohrt und bohrt, bis man ein
Ende machen muß, um irgendwie zur Ruhe zu kommen; und, je nach
Temperament, denkt man wie weiland Götz von Berlichingen, oder aber
das geliebte Leben oder das eigene, besser noch beide, werden ausge¬
spielt. Bleibt das Luder, geht es wie Beatrice an der Leiche des
Einen vorbei zu einem Andern. Als Weib, als ewig unveränderliche
Eva aus dem Garten Eden ist es nicht heimgesucht von der Eifersucht,
die ein von Gedanken durchackertes Liebesgefühl ist, an dem der
denkende Teil der Menschheit, die Männer zu leiden haben. Das Weib
geht zur Tagesordnung über, noch bevor die Würmer an der Arbeit
sind. Lohnte das Objekt die Qual und das Opfer? Wiederum ein
schmählich vertaner großer Aufwand. Wiederum Irrtum und Täuschung.
So sitz ich, Paracelsus, im großen Weltwirtshaus Grüner
Kakadn', schau zu, was tragiert wird, tragiere selbst und lasse tragieren,
und finde immer das eine: Daß die mächtige Phantasie mit einem
mächtigeren Urgefühl ein schlimmes Spiel treibt, daß ein Gegensatz
unausgleichbar wirksam ist zwischen Hirn und Unterleib. Und der
immergleiche Kampf mit dem immergleichen Ergebnis ist ebenso
tragisch wie komisch, des Bewunderns ebenso würdig wie des Be¬
lächelns. Wie sie dastehen, Gottesebenbilder, von der Phantasie an
die Marterpfähle ihrer Ideale: Liebe, Treue und Keuschheit festge¬
bunden, Schmerz, Wut und Wahnsinn in Geste und Gebärde ..
wahrlich, ein Schauspiel für Götter. Weil sie Vergangenheit und Zu¬
kunft wahr haben wollen, wo doch nur der Augenblick recht hat; weil
sie die Dinge und das Leben sicher und positiv haben wollen, wo doch
alles unsicher und vielgesichtig ist. Ihr werdet gequält, Kreaturen,
sweil ihr mehr sein wollt, als ihr sein könnt: Augenblicksgenießer
sund ich, Paracelsus. Fleisch von eurem Fleisch, der ich etliche von euch
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