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bei andern empfinden. Es ist oft unternommen worden, sein
Wesen aus den 3 Komponenten: Judentum, Wienertum, ärzt¬
licher Beruf zu erklären (z. B. Viktor Klemperer im -Jahrbuch
für Wissenschaft des Judentums: 1911). Das Judentum aber
scheint das Wesentliche an ihm zu sein, da alles andere nur
Resultate des zufälligen Lebensganges, Elemente der Umwelt
sind, das Judentum der Grund, die Substanz seiner Persön¬
lichkeit. Das jüdische Wesen als stärkste treibende Kraft seines
Schaffens charakterisiert der bekannte Kritiker Willi Handl in
der -Bohemias so: Die uralte Erbschaft schmerzvollstei
Widersprüche hat ihm sein Stamm auf die Seele geladen: Un¬
stetigkeit in der Welt und festeste Treue zum Haus; die Kraft
der schnellen Anpassung und ewige Fremdheit gegen die Frem¬
den; fanatische Liebe zum Leben und eine unfrohe Scheu vor
allem stark Lebendigen; und endlich die quälende Lust am
unstillbaren Zweifel, das kranke Kind einer Jahrtausende alten
Gedanken-Inzucht, die gefährliche Frucht einer Logik und
Dialektik, die durch lange, lange, dumpfig finstere Zeiten keine
andere Nahrung gehabt haben, als sich selbst.e Und in dem
Schnitzler gewidmeten 9. Heft des -Merker- ist ein prachtvoller
-Glückwunsche von Hermann Bahr, der liebenswürdigste aus
der großen Zahl der mehr oder minder interessanten, mehr
oder minder herzlichen Beiträge; und Bahr wünscht unserm
Dichter, daß er, der zu dem Größten berufen ist, sich nicht
seiner Umwelt hingebe, sondern sein eigenstes Werk aus dem
Grunde seiner eigenen Persönlichkeit zu schaffen suche. -Du
bist mir zum Wiener Liebling zu gut, es gibt ein Land, das
weiter ist. Bescheide dich nicht, ergib dich nicht an Wien,
erhöre dich selbst! Vorwärts, vorwärts, werde was Du bist!.
Schnitzler hat die Wirksamkeit jüdischer Kräfte in seinem
Schaffen klar erkannt. -Wer die Zusammenhänge versteht,
lebt ewig-; ein Dichter, der dieses Wort gesprochen hat, muß
sich der Zusammenhänge bewußt sein, die seine eigene Person
geschaffen haben. Aber es ist nicht seine Art, Probleme zu
lösen; er formuliert sie nur. Auch sein großer Roman Der
Weg ins Freies, der seine Stellung zur Judenfrage darstellt,
gibt uns keine Antwort. Schnitzlers Sympathie ist auf Seite
des Zionisten, des Leo Golowski, das ist nicht zu verkennen;
aber ebenso scheint mir, daß Schnitzler sich Heinrich Bermann
verwandt fühlt, dem -Juden ohne Weltanschauungs, der sich
selbst in die graue Leere stürzen sieht. Wir merken: Hier ist
ein Dichter, der die ganze Tragik des Judenproblems empfindet,
der die Menschen beneidet, denen ihre Weltanschauung einen
festen Weg vorzeichnet, der aber selbst aus seinen Zweifeln
keinen Weg ins Freie findet. Trotzdem sind wir überzeugt,
daß Schnitzlers schöpferisches Temperament den Weg finden
wird. Wie sagte doch Bahr? -Werde, was du bist!... Wir
hoffen, daß wir von diesem Dichter, der ein Meister im Fragen
ist, noch einmal eine kräftige Antwort erhalten werden.
pun
europ
M. M’s. ges. Schr.,
einen Mann von Stande.