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6oth Birthdar
Hauptmanns eigentliche Herzenskinder sind jene, die vom Leben
in die Notwehr gedrängt, ihrer Bürde nicht gewachsen sind, Kam¬
ponierte, Zukurzgekommene, Leidende. Während in der engen
dumpfen Kammer ihrer Fron ihre ausgezehrten Hände fieberhaft
sich das Kleid der Notdurst weben, liegt auf ihren wunden Rugen
der schmerzliche Glanz der Sehnsucht. Pippa und Hannele, Quint
und Prospero und wie viele noch sind in Variationen Gleichnisse
für des Dichters Seele.
So eröhaft Hauptmanns Welt ist — ein Aberirdisches wetter¬
leuchtet hinein, der armselige Werkeltag dieser Hinterwäldler und
Vorstädter, dieser Heimarbeiter und Handwerker ist geschwängert
mit einer religiösen Atmosphäre. Ddie seltsame Mischung von Na¬
turalismus und Metaphysik rückt den Schlesier in unmittelbare
Nähe der Russen. Emanuel Quints größere Dettern sind Dosto¬
jewskis Alioscha und Idiot. Christliches Leiden und Mitleiden beugt
sich da und dort zu den Erleidigten und Ernieörigten, bildet da
und dort an einer neuen Heilandsgestalt. So deutsch Hauptmann
ist, — er ist mehr. Zwar nicht international in dem abstrakten,
intellektuellen Sinn des Naturalismus und des Experimentalromans
(auch darin hat er das Programm von 1890 nicht erfüllt), und er
ist auch nicht eine gemeineuropäische Angelegenheit geworden wie
als letzter Deutscher Nietzsche. In Frankreich und Italien hat er
gar nicht, auf angelsächsischem Boden nur unsicher Fuß gefaßt,
dagegen breitet sich seine Gemeinde mächtig in Skandinavien und
Rußland aus, und wenn immer deutlicher in Europa eine südwest¬
liche und eine nordöstliche Geistigkeit in Gegensatz zueinander treten,
so darf diese letztere Hauptmann ganz als den ihren, als einen
ihrer Besten in Anspruch nehmen.
Hauptmann ist am besten zuhause in den Seelen einer dumpf¬
ursprünglichen, naiven, noch ländlichen Bevölkerung; Schnitzler
in dem wachen, regen, komplizierten Inneren gebildeter Städter,
der obersten Zehntausende im Reiche des Geldes wie des Geistes,
wenigstens derer, die zu den Zehrern, nicht den Mehrern gehören.
Jener zeigt eine Welt der Anfänge, des Durchschnittes, dieser eine
des Endes, der feinen Ausläufer einer Gesellschaft. Hauptmann
ist ein Dichter der Armut und Lebensnot, Schnitzler einer des Wohl¬