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3. 60th Birthday
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diesem Blut nie eingeimpft. Es ist eine Welt sozial herrschender Hoch¬
aristokratie und eine von zehn, zwölf, vierzehn Stämmen bewohnte — also
sind die persönlichen Eigenarten abgeschliffen, die Gebärden und Haltungen
sozial und soziologisch vorbestimmt, wie sie sind, das Rückgrat allzu oft
gebrochen, mindestens gebogen. Es ist ein weiches Klima, das diese Men¬
schen umschließt. Es reißt der Strom mechanisierender Industrie und
Weltwirtschaft diese Menschen noch lange nicht mit der unwiderstehlichen
Vollkraft der deutschen Entwicklung in die Hast berlinischer Entschlossenheit
und die Nüchternheit rein sachlichen Arbeitdaseins — also fehlt ihnen wohl
auch, inmitten bäuerlich=landschaftlicher Kultur wie sie leben, von ihr ab¬
hängig und mit ihr noch verwoben, der tödliche Ernst des Ethos vor der
Geschichte zu verantwortender Arbeit. Bewaffnet mit solchen und vielen
anderen Erkenntnissen tritt der Deutsche abermals, nun überlegen mehr
als befreundet, an diese Welt heran. Doch sie beugt sich ihm nicht. Sie
achtet seine Klugheit, sie bejaht sie, doch sie lächelt. Und antwortet ihm
mit blitzschneller psychologischer Zergliederung seines Wesens, stellt das
Gleichgewicht der Kräfte plötzlich her, indem sie ihm zeigt, daß sie seinen
Seelenzustand nicht geschichtlich, soziologisch, sozialwissenschaftlich begreift,
was sie gar nicht will, wohl aber menschlich, und das bis ins Innerste.
Lächelnd legt sie seine Schwächen, lächelnd sein Schicksal bloß; lächelnd
— das erkennt er nun — ebenso das ihre, das sie bis zum Grunde kennt
und ohne tragische Bemäntelung, dennoch vielleicht bis zum Tode, trägt.
Denn diese Welt, die so instinktiv lebt, kennt sich. Sie kennt sich bis zu
dem Punkte genau, wo Selbsterkenntnis den Willen lähmen mag. Dop¬
pelt befremdet steht der nationalere Deutsche vor dieser Mischung aus Ein¬
fühlung und Hellsicht, Instinkt und Bewußtheit, die ihm unvereinbar
scheinen und hier doch leibhaft=seelhaft vor ihm steht. Befreundet, bis er
lernt, das Seiende anzuerkennen als Sein=Sollendes und =Müssendes, und
darauf verzichtet, dazu anders „Stellung zu nehmen“ als menschlich=emp¬
fänglich, freundlich, liebevoll, abbildend, ohne „Urteil“ und ohne den
Willen, abzuändern, was gewachsen ist, wie es ist.
Gedanken und Erlebnisse wie die eben entwickelten hat Schnitzlers Werk
tausendmal in deutschen Lesern hervorgerufen, die Wiens oder des ver¬
wandten Stockholms Begeisterung für den Abbildner seiner Welt nicht ver¬
standen; hundertmal sind sie zum Antrieb von „Kritiken“ geworden, die
ihren Verfassern bis ins Letzte begründet und berechtigt schienen, den An¬
hängern Schnitzlers aber seltsam verständnislos und hölzern. Wie oft ist
das Vorwalten der Erotik in Schnitzlers Menschenwelt bemängelt worden!
Sehen wir jedoch von ein paar frühen Arbeiten des Dichters ab, in denen
das „Interesse“ daran allerdings wuchert und die Ruhe der Aberschau
noch nicht erreicht ist (aber: gab es solche Dichter im Deutschland von 1890
bis 1920 nicht?), so bleibt bestehen, daß die erotische Atmosphäre seiner
Welt mit stärkeren Spannungen geladen ist als die berlinische, hambur¬
gische oder breslauische; daß jene Mischung aus Instinkt und Bewußtheit,
Einfühlung und Hellsicht, ungehemmterer Phantasie und ethisch unent¬
schiedenerer Natürlichkeit das erotische Leben weit weniger geistig unter¬
jocht, anderseits aber von Erotik, sei sie verdrängt oder impulsiv=frei, weit
mehr gequält und beschäftigt wird, als Leib und Seele der Nord=, Mittel¬
und Süddeutschen; daß der gereifte Schnitzler hieran kein größeres In¬
teresse nahm, als die Welt gebot, die er abbildete. Freilich, was immer er
an geistigem Leben und gesellschaftlichem Ereignis, an Tiefen des Mensch¬
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