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6oth Birthdar
Hätte Schnitzler wie mancher andere eines det die Lüge des Lebens so sehr wie Ibsen, sie Ueberzeugendes verloren, schon fühlen wi
uns fremd in einer Welt, der selbst in dei
Tages das Publikum mit einem Werk völlig bildet eigentlich den Gegenstand seiner ganzen
Mannes Leben die Liebe als das einzige uni
Dichtung, aber er nimmt sie wehmütig lächelnd
abweichenden Gepräges herausgefordert und
wesentliche erscheinen konnte. Das änder
hin, weil sie ihm untrennbarer Inhalt des
es vor die Entscheidung gestellt, entweder des
nichts daran, daß das Grundgefühl von der
Lebens scheint. So wird die Lebenslüge, die
Dichters Vielgestalt hinzunehmen oder die
Allmacht des Lebens über solche zeitlichen
ihm zuerst im Gewand gesellschaftlicher Vor¬
eine Seite seines Wesens zu bejahen, die an¬
urteile erschienen ist, und die sich auch in sei= Gestaltungen hinweg seine Gültigkeit behält
dere abzulehnen, so würde es nicht nötig sein,
und daß solche Hingabe an die Gewalt des
nem späteren Schaffen noch manchmal in
den späteren Schnitzler aus den Anfängen des
bunten Seins, mit so bestrickender Formkunst
solchen Gestalten zeigt, zu einem Grundbestand¬
früheren herauszulösen, die Züge des fünge¬
Mai.
und Grazie vorgetragen, wie sie in Deutsch¬
teil des menschlichen Lebens, vor allem der
ren noch im Bilde des älteren aufzuzeigen.
land gar seltene Gabe ist, auch den zu fesseln
Beziehungen der Geschlechter zueinander,
Demgegenüber steht Schnitzlers Schaffen unter
vermag, der es in unserer ringenden Epache
deren verwirrende Mannigfaltigkeit von An¬
dem Gesetz einer fortschreitenden folgerichtigen
vorzieht, Stärkung bei Dichtern zu sughen,
der
fang an den Stoff bildet, an dem sich für
Entwicklung, die niemals aus ihrer Bahn
deren Herz mit dem Kämpfer schlägt. —
rung.
Schnitzler das Leben darstellt. Jene Lüge zu
bricht, und der Gereifte hat kaum Töne gesun¬
den
bekämpfen, ist daher eine fragwürdige Auf¬
den, die nicht ihren Vorklang schon in den
des
gabe: die Stunden des Erkennens, die in des
Jugendwerken befäßen. Aber die Akzente
doch
Dichters Werken immer wiederkehren, bringen
haben sich langsam verschoben, und so bedeutet
selten Befreiung; häufig, wenn sie wirkliche
Frage
die Entwicklung doch eine stetige Wandlung.
ürste
Erkenntnis gaben und nicht an Stelle der einen
Schnitzlers Jugendstücken sind die
In
auf¬
Lüge eine andere setzten. Ekel oder Verzweif¬
Linien einfach, die Probleme treten klar her¬
tim¬
lung. Wer klug ist, weiß, daß eine Lüge, die
vor. Umgeben aber werden sie von der berau¬
über
ein menschliches Dasein zu tragen vermag,
schenden Polyphonie einer den Lokalton mit
besser ist, als eine zerstörende Wahrheit, er
mehr
unvergleichlicher Meisterschaft treffenden Stim¬
weiß, daß wir immer spielen, und daß wir
Schkeit
mung. So wird das leicht überhört, was zwi¬
nichts von uns und nichts von anderen wissen.
likurm
schen diesen beiden Elementen, dem einfach
Nur die Toren wollen erkennen und zur Er¬
ühen
klaren Was und dem verführerisch vielstim¬
kenntnis verhelsen, nur die Toren suchen das
Stücke,
migen Wie, auch in diesen Werken schon charak¬
Leben zu meistern; es ist Traum, Spiel. Lüge,
elei“,
teristisch zu erkennen ist: Die Stellung des
Chavs, aber auch einzige Macht und Wirklich¬
enden
Dichters zum Konflikt. Schnitzlers Helden
keit; die Hand, die sich vermißt zu lenken,
Endern
gehen nicht als Kämpfer wider die Konven¬
greift ins Leere, und wer zu sehen glaubt, wird
dem
tion zugrunde. Sie sind in der Tiefe ihrer
blind dahingetrieben, wohin zu kommen ihm
eichen
Seele selbst Fahnenflüchtige, die die Berech¬
Bleben
bestimmt war.
tigung des Lebens wie es ist, deshalb weil es
wohl¬
Auf solchem Boden gedeihen keine Helden.
ist, noch da anerkennen, wo es im fragwürdigen
gar
Die Lebenskämpfer kommen denn auch bei
Mantel der gesellschaftlichen Konvention auf¬
, die
Schnitzler schlecht genug weg. Immer wieder
tritt: der Verächter des „Märchens“ vom Be¬
Pokal¬
stehen sie als beirogene Betrüger da, und mit
lastetsein der Gefallenen empfindet selbst
Entale
zunehmender Reife wächst des Dichters müd¬
gegenüber dem, worüber „kein Mann hinweg
solcher
lächelnde Sympathie mit den Gütigen, die,
kann“ schließlich doch wie die andern, der Be¬
st ein
betrogen, ohne es zu erkennen, im Grunde
kämpfer der Duellmoral, dem das Leben das
nven¬
doch die Glücklicheren sind.
höchste Gut erscheint, vermag es am Ende doch
awofs
Schnitzler hut es einmal das Charakteri¬
nicht, den Selbstvorwurf der Feigheit zu er¬
e Ge¬
stische aller Uebergangsevochen genannt, „daß
tragen. Hier ist der Punkt, wo die weitere
agisch
Verwicklungen, die für die nächste Generation
Entwicklung einsetzen kann, weil hier bereits
pathie
vielleicht gar nicht mehr existieren werden,
die grundsätzlich= Abweichung in Schnitzlers
Porur¬
tragisch enden müssen, wenn ein leidlich anstän¬
Auffassung der konnentionellen Lüge gegeben
Reihe
diger Mensch hinein gerät.“ Manche von den
war, hier der Punkt, wo es sich zeigt, daß
schaft¬
Verwicklungen, in denen sich für Schnitzlers
Kampf Schnitzlers Musik ihre Klangfarbe von des
Menschen das Unüberwindliche des Lebens
und weltanschaulicher
wuch= Dichters ethischer
Grundeinstellung hernahm: Schnitzler empfin=harstellt, haben schon heute für uns ihr