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0. Antisen111—

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Der Angriff
75
Berlin
7. Dezember 1934
Jüdischer Parnaß
Der jüdische Parnaß, so müssen die Käufer
eines Lexikons, das augenblicklich in Berlin
erscheint und noch nicht abgeschlossen ist, mei¬
nen, der jüdische Parnaß ist in Oesterreich zu
suchen. Nun stimmt das ja leider zum Teil
wirklich: man hat in Wien seit anderthalb
Jahrzehnten jeden Schläfenbelockten, der aus
dem Osten der europäischen Landkarte kam,
mit offenen Armen ausgenommen. Daran hat
sich bis heute nichts geändert. Aber das ist
ja schon oft gesagt worden.
Dennoch: so ganz jüdisch, wie sich's viele
Leute wünschen und wie es manche Leute glau¬
ben, ist Oesterreich immer noch nicht. Es gibt
dort Widerstände gegen das Judentum, die
mit jedem neuen Tag wachsen, und es sind
noch weite Wege, bis Wien eine Kolonie von
Palästina wird. Die Oesterreicher, das Volk
nämlich, sind heute mehr denn je auf der
Hut.
Für das besagte Berliner Lexikohn ist aber
die Kolonisierung Oesterreichs durch Palästina
schon vollzogene Tatsache. Denn da gibt es
eine Seite mit der Ueberschrift „Deutsche Dich¬
ter“ und auf dieser Seite findet man Bild¬
nisse. Darunter die Bildnisse von fünf
Oesterreichern, was ja an sich nicht gar so
wenig wäre. Aber diese Oesterreicher heißen:
Stefan Zweig, Franz Werfel,
Hugo von Hofmannsthal, Arthur
Schnitzler und Jakob Wassermann
(den man Wien zurechnen muß, auch wenn er
aus Fürth kommt).
Fünf Oesterreicher, fünf Juden.
Eine glatte Rechnung. So glatt ist diese Rech¬
nung, daß die besten Oesterreicher, wenn sie
das sehen, an sich selbst zweifeln müssen. Sie
werden kaum mehr wissen, ob nun wirklich
Tarnopol in Galizien oder in der Steiermark
liegt und ob die Hauptstadt von Tirol nicht
doch etwa Brody ist. Eine furchtbare Ver¬
wechslung muß da ausbrechen, der man von
vornherein hätte begegnen können. Die
Schriftleitung des Lexikohns weiß zu wenig
Bescheid? Es soll ihr mit ein paar Namen
geholfen werden: Rosegger, Schönherr, Mell,
Strobl, Jelusich, Billinger.
Und indem man sie alle beschwört, wird
klar, daß Tarnopol doch nicht in der Steier¬
mark liegt und daß die Hauptstadt von Tirol
nach wie vor Innsbruck ist und keineswegs
Brody.
Es scheint aber notwendig, daß Literar¬
historiker sich auch ein wenig in der Geogra¬
phie auskennen müßten, wenn sie nicht heil¬
lose Verwirrung anrichten sollen.
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E. H. R.
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