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Feuilleton.
M
Schlüsselromane.
Zu den größten Sünden gegen den Geist der Literatur
und den guten Geschmack gehören die sogenannten Schlüssel¬
romane. Sie drücken die Dichtkunst auf das niederste Niveau
herab und sind künstlerisch und moralisch gleich werthlos. Der
Schlüsselroman schädigt ebenso Diejenigen, die er schildert, wie Die¬
jenigen, die durch diese größtentheils gehässigen und übertriebenen,
wenn nicht gar unrichtigen Schilderungen getäuscht werden, getäuscht
über einzelne Personen, wie über allgemeine Verhältnisse. Die an¬
gegriffenen Personen können sich nicht wehren, denn sie sind ja nicht
mit ihrem Namen bezeichnet. Die Allgemeinheit aber kann und soll es.
Und erhält sie in unserer Zeit übelverstandener Humanität nicht das
Recht, den Verfasser zu bestrafen, dann soll sie wenigstens seine
Bücher nicht lesen, sie aber ja nicht verbieten oder verbrennen,
sondern je stiller, desto besser, irgendwo einsargen. Das ist, wie die
Absicht der Schlüsselromanciers gewöhnlich beschaffen ist, für diese
eine viel schlimmere als die Todesstrafe. Sie schreiben doch meistens
nur, damit man von ihnen rede!
Ein direktes Pamphlet, eine klare, dentliche, wenn auch noch
grobe Schmähschrift gegen eine bestimmte Person ist, selbst wenn sie
anonym erscheint, noch immer eine muthige That im Vergleiche mit
einem Schlüsselroman. Im Pamphlet erscheint wenigstens der eine
Gegner, der Angegriffene, mit offenem Visir. Er sieht frei in die
Augen des Himmels, den er zum Zeugen hat, daß ihm Unrecht
geschieht. Umgekehrt, so daß sich der Angreifer dem Urtheil
stellen würde, wäre es freilich nobler. Aber so viel darf
man nicht verlangen. Ein Don Quixote schreibt eben kein
Pamphlet. Der also Angegriffene hat aber neben dem natürlichen
auch noch das gesetzliche Recht der Vertheidigung. Wenn schon
nicht dreinhauen, so darf er doch wenigstens — klagen, denn
nichts ist leichter auffindbar, als ein anonymer Verfasser, das
ist eine alte Geschichte. Die Leute jedoch, die der Mann, der seinerseits
eine Maske trägt, nackt und bloß auf den Lesetisch legt, können
sich nicht wehren, und wenn ihnen das Sezirmesser noch so nah an
der Kehle sitzt. Ihr Name wurde nicht genannt! Und weil ja wirklich
beispielsweise in Berlin und München und Wien ein paar Menschen
existiren, die Denen gleichen, welche die Verfasser schildern, so kann
Berlin und München und Wien nichts dagegen thun, daß man die
paar Einzelnen als Stadt= und Landtypen hinstellt, und das als
Berliner“ oder „Wiener Roman“ bezeichnet, was doch nur der
Roman des kleinen, sehr kleinen Kreises des Schlüsselromanciers ist,
über den seine schwachen Augen nicht hinaussehen, des Kreises, in welchem
sich der kläglichste, erbärmlichste Lokaltratsch herumtreibt, der auf diese
Art Gefahr läuft, dereinst als „Sittengeschichte“ der Nachwelt
überliefert zu werden. Ueber Schlüsselromane gibt es nur ein Urtheil:
das spartanische.
Das letzte Jahr hat, ein recht träuriger Wettermesser des Tages¬
geschmacks, allerorten eine Unzahl solcher Schlüsselromane auf den
Markt geworfen. Das Londoner High-lise hat ihrer verschiedene,
zumeist aus weiblicher, mehr ver= als berufener Feder, geboren.
Paris liefert regelmäßig in jeder Saison von ganz namenlosen oder
als chronischen out-siders bekannten Schriftstellern etwas dergleichen.
Allen voran steht darin in letzter Zeit Berlin. Jede zweite
Leihbibliotheksnummer dort weist sich als Schlüsselroman aus.
Nur daß sich die Betroffenen wenig daraus machen und noch
weniger ihr Privatleben dadurch wirklich „erschlossen“ finden. Und die
das Zeug lesen, denken höchstens einen Augenblick lang: „Aha, das
soll Der oder Die sein! Oder nicht? Schließlich ganz egal!“ Bei
uns in Wien ist das anders. Da ist vor ein paar Tagen bei Konegen
ein Buch erschienen, „Götzendienst, ein Wiener Roman“
natürlich anonym und natürlich mit Schlüssel, wenn auch durchaus
schreit alle Welt:
nicht mit dem Sankt Peters, versehen. Gleich
Willen besteht
ein Ereigniß. Worin, um des Himmels
eines ehrgeizigen,
dieses Ereigniß? Darin, daß der Salon
albernen und prätentiösen Frauenzimmers geschildert wird,
das nach Berühmtheiten angelt, um durch den Aufputz einiger Kunst¬
größen die Menge der Mittelmäßigkeit in diesen Stall der Circe zu
ziehen? Ist das etwa ein blos wienerischer Charakterzug? Gewiß nicht.
Wo überhaupt ein Gesellschaftsleben geführt wird, tritt er auf. Die
Hundenatur im Menschen schlägt bei allen Racen durch. Man schwärmt
für Freiheit und . . . sucht sich einen Herrn, macht ihn zum Gott,
zum Götzen. Immer stehen um einen Großen die Schaaren der
Kleinen. Schweifwedeln und Händelecken ist der einzige Ersotz dafür,
daß man nicht selbst Derjenige sein kann, der „kusch“ sagen darf.
Heute wie vor tausend Jahren braucht die Menschheit ein goldenes
Kalb, um das sie tanzen kann. In Wien wächst sich dasselbe manchmal
zu einem gediegenen Ochsen aus, bevor es auf dem Altar des Nach¬
folgers geschlachtet wird. Wir sind gut= und langmüthiger als andere
Götzendiener. Aber wir stecken nicht mehr in der Sklaverei, als diese.
—.—
Oder liegt das Ereigniß etwa darin, daß aus zusammengestoppelten
Zeitungsberichten der Wahlreden beim „Goldenen Luchsen“ und bei
en ober zwei Wiener
„Dreher“ mehrere aktuelle Volkstribunen g
Schriftsteller durchgehechelt werden, die, selbst wenn sie nicht schreiben,
noch immer mehr zu sagen haben, als der Verfasser des Romanes,
und wenn er hundert Bände schriebe? Ich verwahre mich aus¬
drücklich dagegen, in irgend einer Hinsicht pro domo zu urtheilen. Ich
wurde noch nie als Salonaufputz eingeladen, stehe in keinerlei Be¬
ziehung zu irgend einem liberalen oder antisemitischen Parteiführer,
kenne den einen Schriftsteller so wenig wie den Verfasser des Götzen¬
dienstes“, und weiß von dem anderen, daß er gottlob auf meine Ver¬
theidigung so wenig ansteht, wie die in dem Buche vorkommende Wiener
Schauspielerin, die zufällig das besitzt, was man an ihrer Schilderung
vermißt: ein ehrliches, positives Können. Aber ich glaube, das Ereignißliegt
für die Meisten darin, daß man über die Autorschaft im Unklaren ist
und nur so viel weiß, daß es ein Mann geschrieben hat, der kein Schrift¬
steller ist, also das Ding verstehen muß. Man möchte mit einem Satze
aus eben dem Stücke des Wiener Autors sagen, das der Götzendienst¬
verfasser besonders hernimmt: Was fällt dem Jüngling (oder vielleicht
ist es schon ein Greis; wie gesagt, ich weiß es nicht), also, was fällt
dem Jüngling ein, zu dichten? Er ist doch aus einer so anständigen
Familie!“ Diese anständige Familie des Verfassers ist das einzige
Positive, worauf sich aus dem Buche schließen läßt. Für sie, und für
dafür gelten wollen, legt
alle Diejenigen seines Kreises, die
mehr langathmigen, als
er seine tugendhafte Entrüstung
schwungvollen Tiraden nieder. Sich selber macht er das Ver¬
Lockreize des Lasters zu
gnügen, oft und ausführlich die
schildern. Das Alles hat eigentlich herzlich wenig Bedeutung. Wenn sich
auch ein oder das andere Exemplar des Buches ins Ausland verirren
sollte, so wird doch dies Wiener „Ereigniß“ draußen höchst wahrschein¬
lich kein solches bedeuten. Es gehen in Wien wichtigere Dinge vor, von
denen man anderwärts keine Notiz nimmt. Dieses Faktum und die
Gründe desselben einmal von einem großherzigen und klarblickenden
Standpunkte aus dargestellt, gäben entschieden einen würdigeren und
reicher zu gestaltenden Vorwurf für einen echten Wiener Roman, als
jener bei uns allerdings übertriebene Personalkultus, den der Verfasser
angreift, und der gerade der einzige Grund ist, aus welchem man sein
Buch liest. Würde man nicht in ihm einen Mann sehen, der's „nicht
nöthig“ hat, es würden wenig Exemplare verkauft werden. Do# ist
auch nicht blos wienerisch.
Im Autor des „Götzendienstes“, welcher die modernen Dchter
verspottet, lernt man einen noch Moderneren kennen. Ihm kommt es
nämlich nicht nur auf das „Was“, sondern auch schon auf das „Wie“.
nicht mehr an. Es geschieht fast nichts in dem Romane. Eine tugend¬
hafte Schauspielerin bekommt keine Rollen, ein braves Mädchen
keinen Mann, die Leute, welche sich um den kühnen Börsen¬
spekulanten schaaren, kriegen kein Geld u. s. f. Lauter Negative. Und
wie dieses Nichts herbeigeführt wird, ist total nichtig. Dem Autor
genügt es, alle paar Seiten einmal wieder eine neue Puppe aufzu¬
stellen, auf die Jedermann mit Fingern deutet. Er selbst wirft dann,
nicht mit Messern oder scharfen Geschossen, o nein, so blutdürstig ist
er gar nicht, sondern mit Wollballen, wie in den Praterbuden, nach
ihnen. Aber nicht einmal diese treffen, sondern fliegen zum Gaudium
der Umstebenden und des Budenbzsitzers an die hohlklingende
Wand, indeß die Puppen grinsend mit den Köpfen wackeln.
So zum Beispiel die beiden Schriftsteller Dr. Raffke
und Lohm. Für uns liegt kein Grund vor, ihre wirklichen Namen
zu verschweigen. Sie lauten: Bahr und Schnitzler. Menschen, die ihre
eigenen Wege gehen, haben meistens auch ihr eigenes Gevräge. Diese;
Beiden, vielleicht nicht ohne Absicht, noch etwas mehr als Andere. Es
wäre leicht gewesen, wenn man sie schon durchaus fassen wollte, den¬
Angriff gegen ihre diversen Achillesfersen zu richten. Aber nein. Der
Verfasser sucht just das Ernste lächerlich zu machen, auf welches sie
hinarbeiten, wirst ihnen das vor, wofür Wien alle Ursache hat, dankbar
zu seinWenn Schnitzler die Wiener Vorstadtmädeln bühnenfähig und
novellenwurdig gestaltet, so gibt er entschieden ein besseres Bild eines
Theiles von Wien, als im Götzendienst“ enthalten ist. Die
SchnitzlerischenTypenund Schilderungen des weiblichen Klein¬
bürgerthums sind documenls Kümains, die vielleicht in der
Mache, aber nicht in der Auffassung, und vor Allem nicht
in der Berechtigung hinter den Sittenschilderungen der be¬
deutenden Franzosen zurückstehen. Man fühlt den Boden, auf
dem diese Menschen, Männer wie Frauen, stehen, fühlt, daß sie
nirgends anders hätten geboren werden können, nirgends anders leben
und lieben, nicht außerhalb Wiens sterben wollen. Das ist etwas,
mein Herr, das ist sogar sehr viel. Es ist der Weg, der zu Balzac
führt, wenn die Kraft nicht früher erlahmt. Es heißt, seinen Gestalten
einen Heimatsschein zu geben, der das Ehrenbürgerrecht für den Dichter
in sich schließt. Wie Viele erwerben sich denn das?
Und nun Bahr! Daß er die „Jungen“ sördert und gleich
schwarmweise Talente entdeckt, wird ihm vorgeworsen, daß er die Leute
gerne „blufft“ und auf der Bühne sagen läßt: „Im Parket sitzen die
dümmsten Gesichter.“ Ueber letzteren Ausspruch ließe sich allerdings