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Miscellaneons
box 41/2
Tagebuchslätter.
Von Herrmann Bahr.
(Aus der im Verlaufe der nächsten Woche er¬
scheinenden Nummer der Wochenschrift „Der
Wien, 20. Feber 1906. Merkwürdige
Meuschen das, diese Wiener. Seit mehr als zwölf
Jahren leben sie mit mir in einer Stadt und
heute entdeckte ich zu ihrer Schande, daß es
lauter Fremdlinge sind, die rings um mich wohnen.
Der einzige leibhaftige Bürger, der sich so nennen
darf, ohne mit Kulturbegriffen ein frivoles Spiel
zu treiben, bin ich selber. Die Reinkultur des
Urwiener. Alles übrige ist degenerierte Masse.
Bühnen Deutschlands abkaufen lassen müßte, in
Wien bleibe ich nicht länger. Dort versteht man
mich nicht, weil ich zu geistreich bin. Meine Frau
hats gesagt. Und dann passen mir auch die poli¬
tischen Verhältnisse nicht mehr. Man kennt sich
ja nicht mehr aus! Der Anarchismus ist nicht
mehr modern, die Sozialdemokraten sind seit der
Wahlrechtsbewegung die reinste Hofpartei gewor¬
den, der Liberalismus war nie modern und der
Antisemitismus ist eine zweischneidige Sache. So
oder so: Oesterreich muß zugrunde gehen, wenn
so weiche Menschen wie ich nicht bei Zeiten aus¬
kneifen. Mit mir hat die Natur mehr gewollt, als
sich auf so steinigen Boden erreichen läßt. Ich
darf die Notur nicht behindern und gehe. Ob ich
wiederkomme? Müßige Frage. Was könnte noch
aus dem Burgtheater werden, wenn es einmal
in die richtigen Hände käme, was aus ganz Oester¬
reich, wenn sein Ministerpräsident meinen Witz
und meine Vielseitigkeit hätte. Aber ich dränge
mich nicht auf. Ich veröffentliche höchstens Tage¬
buchblätter.
Berlin, Feber 1906. Die zwei Städte
Wien und Berlin sind miteinander überhaupt
nicht zu vergleichen. Sie haben höchstens das eine
gemeinsam, daß ich mich in beiden nicht wohl
fühle. Auch hier wie dort Menschen, die das
Arußerste an Kunstbarbarismus imstande sind.
Es beweist nichts, daß sie Schnitzler gelten lassen,
mit Wedekind kokettieren und bei Hauptmann
Rückzug blasen. Schnitzler hat mir mit der Zeit
zuviel Race bekommen, Wedekind betreibt mir
die Originalität zu systematisch und auf Haupt¬
mann zu schimpfen, seitdem er Pippas Tanzlehrer
geworden, ist Kraftvergendung. Man müßte einen
Dichter entdecken, der sich von Schnitzlers Ein¬
besitzt,
seitigkeit frei weiß, die Kühnheit D#
ohne mit ihr so zu protzen, der nicht wie Höff¬
mannsthal den Nervenzuckungen der Eysold Heka¬
tomben griechische Verse opfert, der Stimmungs¬
mensch, Histeriker, Zyniker, Dialektiker und Diabo¬
liker in einer Person ist. Man müßte ihn entdecken,
wenn ich nicht zwei Dramen geschrieben hätte, welche
mir als der Inbegriff dessen erscheinen, was ich
von der deutsche Bühne verlange. Das eine ist
„Der Meister“ und mein neues Drama „Der
Andere“ ist auch ein Meisterstück. Und man be¬
trachte das Repertoire der Berliner Theater!
Wo ist da ausreichend Hermann Bahr vertreten,
um nicht von mir in der ersten Person zu reden.
Mit einem Wort: Berlin gefällt mir nicht. Ich
will noch nicht das letzte Wort sprechen, solange
die Verhandlungen mit Reinhard im Zuge sind.
Aber soviel weiß ich, daß ich als Bürger auch
nicht her gravitiere. Eigenilich hin ich meinem
innersten Glaubensbekenntnisse nach weder Wiener
noch Berliner, sondern Weltbürger in höherem
Sinne als dieses Wort von Goethe mißbraucht
wurde. Die Stadt müßte erst gebaut werden, in
die ich hineinpasse.
Wien, 24. Feber 1906. Heute ist der vier¬
zehnte Tag, seitdem ich ein Tagebuch führe. Es
ist ein Glück, daß vor dem Weg“ noch keine
andere Redaktion den Einfall hatte, mir soviele
Bekenntnisse abzunötigen. Es wäre eine ganze
Bibliothek von Tagebuchblättern geworden, die
jalles Dagewesene an Aufzeichnungen schon durch
den Umfang geschlagen hätte. Auch weiß ich
micht, ob ich es ein ganzes Leben ausgehalten
hätte, mir jeden Tag etwas Bedeutendes zu den¬
sten. Seitdem ich es mir zur Gewohnheit gemacht
Ihabe, genieße ich bei Lebzeiten die Unsterblichkeit.
Ich lese allwöchentlich meinen Nachlaß bereits
gedruckt. Ich lebe in der Nachwelt, was mir mit
Rücksicht auf die undankbaren Zeitgenossen ganz
angenehm ist. Das Traurige darau ist, daß ich
soviel von mir selber reden muß, um überhaupt
interessant zu sein. Die Wiener tun mir im
Grunde leid. Wie werden sie in Jahrzehnten
den Vorwurf ertragen, mich so schmählich ver¬
kannt zu haben.
Wien, 25. Feber. Heute habe ich den ganzen
Tag über das Problem nachgedacht, wie man den
schiffbrüchigen Realismus wieder flott machen
könnte. Man müßte den Kompetenzkreis des
Theaiers erweitern und noch eins; man müßte
die Dichter abschaffen. Sie sinnieren und kom¬
binieren, sie destillieren zuviel, sie sind Berauschte
und verbreiten zuviel Schnapsgeruch, womit nur
Man müßte
behien
realistisel