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erücksichtigt, ihre entsetztichen Leiden hat sie meist unverändert
bestehen lassen.
Die Freiheitsstrafen werden bei den gegenwärtigen Zu¬
tänden in Ruß and zur unerträglichen Marter. Unterernährung
bis zum buchstäblichen Verhungern, Uebersüllung der Gefängnisse
bis zur Unmöglichkeit, auch nur den nackten Fußboden als
Lagerstätte zu benützen, und eine alles menschliche Gesühl ver¬
höhnende Behandlung der Gesangenen lassen die Gesängnisse
zur wahren Hölle werden.
Zehn Koveken, das sind einundzwanzigeinhalb Pfennig.
wirft die Verwaltung für die Beköstigung der Gesangenen im
Durchschnitt für den Tag aus; davon wird aber noch ein großer
Teil durch Willkür und durch Untreue der Beamten seinem
Zwecke entzogen.
Zusammengepfercht in überfüllten Räumen, die den
elementarsten Anforderungen der Hygiene und Sauberkeit ins
Gesicht schlagen, werden die elend verpflegten Gefangenen fast
ohne jede ärztliche Hilfe verheerenden Epidemien ausgeliefert.
Skorbut, Typhus und Tuberkulose dezimieren ihre Reihen. In
manchen Gefängnissen ist die jährliche Sterblichkeitsziffer auf
zwölf Prozent gestiegen. Die Gelängnisse werden oft zu
Krankheitsherden für die ganze Umgebung. Gefangene mit
langjährigen Freiheitsstrafen, und das sind die meisten
„Politischen“ sind unentrinnbar zur grausamsten Todesstrafe,
zu „langsamem Sterben“, verurteilt.
Furchtbar ist die persönliche Behandlung der Gefangenen,
im Untersuchungsgefängnis nicht minder als im Strafgefängnis.
Folterungen bei den Verhören, schwere Mißhandlungen und
Durchpeitschungen von Männern und Frauen sind, in Prozessen
festgestellt, jedes Jahr in der Reichsduma erörtert worden.
Eine wahre Selbstmordevidemie ist unter den Gefangenen
entstanden. Die Unglücklichen sehen im Selbstmord die einzige
Erlösung, viele von ihnen geben sich hiebei der Hoffnung hin,
daß ihr freiwilliger Tod die Oeffentlichkeit aufrütteln und so
eine Verbesserung der unerträglichen Lage ihrer Leidens¬
gefährten herbeiführen werde.
Von erschütternder Tragik ist auch das Los der
ungezählten Tausende von politischen Verbannten, von denen
die Mehrzahl ihrem Schichal ohne Richterspruch, durch
administrative Willtür ausgeantwortet ist. Zumeist in eisigen
Gebieten und ohne die Möglichkeit auch nur der notdürstigen
Ernährung, Bekleidung und Unterkunft siechen sie rettungs¬
los dahin.
Schon die Schilderungen George Kennans haben einen
Sturm der Entrüstung in Westeuropa entfesselt; jetzt, nach einem
Vierteljahrhundert, stehen wir vor noch viel entsetzlicheren Zu¬
ständen. Heute wie damals handelt es sich teineswegs um eine
ausschließlich innerrussische Angelegenheit. Diese Zustände rufen
vielmehr über alle politischen Meinungsverschiedenheiten hinweg
das Gewissen aller Kulturvöller auf.
Seit einigen Jahren regt sich in Westeurova eine Be¬
wegung gegen diese Greuel. Im Jahre 1909 veröffentlichte ein
englisches Comité von Parlamentariern verschiedener Parteien,
von Vertretern des Journalismus, der Kirche und der Universi¬
täten eine Schrift mit dem Titel: „The Terror in Russia“ als
„Appell an die britische Nation“. Auch in Frankreich hat die
„Liga der Menschen= und Bürgerrechte“ eine Protestbewegung
ins Leben gerufen. Durch den Anschluß anderer Länder ist diese
Bewegung zur Sache der ge amten Kulturwelt geworden.
Die Unterzeichneten haben sich zusammengeschlossen,
um die Tatsa hen zu sammeln und zu veröffentlichen, die allen
Freunden der Gerechtigkeit und Menschlichkeit ohne Unterschied
der Partei ein gesichertes Urteil über diese grauenvollen Zu¬
stände ermöglichen. Es gilt, das Gewissen der Menschheit gegen
die Mißhandlung und Vernichtung von vielen Tausenden
Menschenleben wachzurufen. Es gilt, durch moralische und
materielle Unterstützung zu zeigen, daß auch die Unglücklichen in
den russischen Gefängnissen und in den sibirischen Einöden von
menschlichem Mitgesühl umsaßt werden.
18. November 1913.
Die Unterzeichneten.
Der Aufruf ist von etwa fünihundert Männern und
Frauen des gesamten Kulturlebens in Europa unterzeichnet.
Aus dem alphabetischen Verzeichnis greifen wir folgende
Namen heraus: Dr. Viktor Adler (Wien), Deputierter Viktor
Augagneur (Paris), Hermann Bahr (Wien), Schauspieler Albert
Bassermann (Berlin), Professor Dr. Friedrich Becke (Wien),
Eduard Bernstein (Berlin), Vorsitzender der zweiten Kammer
in Holland Dr. H. Goeman Borgesius (Haag), Professor Dr.
Eugen Bormann (Wien), Lily Braun (Berlin), Lujo Brentano
(München), Charles Briand (Paris), Präsident der Stadtver¬
tretung von Kopenhagen Ch. Christiansen, Deputierter Compère¬
Morel (Paris), Romanschriftsteller A. Conan Doyle (London),
Maler Lovis Corninth (Berlin), Ignaz Daszynski (Krakau),
Musiter Claude Debussy (Paris), Schriftsteller Richard Dehmel
nen
Wilhelm Ostwald (Leipzig), Engelbert Pernerstorfer (Wien),
Francis de Pressené (Paris), Professor Emil Reich (Wien),
Schauspieler Emanuel Reicher (Berlin), Schriftstellerin Gabricle
Reuter (Berlin), Paul Schlenther (Berlin), Arthur Schnitzler
(Wien), Marcel Sembat (Paris), Vizepräsident Stauning (Kopen¬
hagen), Professor Franz v. Stuck (München), Schriftsteller Eduard
Stucken (Berlin), Vizepräsident P. J. Troelstra (Haag), Eduard
Vaillant (Paris), Schriftstellerin Klara Viebig (Berlin), Schrift¬
steller Frank Wedekind (München), Musiker Felix Weingartner
(Hambura), Schriftsteller H. G. Wells (London), Schrifsteller
Gustav Wied (Dänemark) und viele andere Männer der Politik,
der Wissenschaft und Kunst.