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1. Miscellaneons
1978
Beiiner Börsen Courier, Berlin
Morgenausgabe
Schriftstellerprotest gegen Wiener Zenfur¬
verfügungen. Hermann Bahr, Franz Blei,
Artür Schnitlr Jakob Wassermann,
Franz Werfel u. a. haben nachstehenden Protest
gegen die Wiener Zensurverbote der Stücke von
Schickele und Claudel den dortigen Blättern
übermittel!:
„Wie unterzeichneten Schriftsteller fühlen uns zu einem
Protest gegen das amtliche Verbot veranlaßt, mit dem man,
die Aufführungen der Werke von Schickele und Claudel
belegt hat. Wir sindch es eines Kulturvolks un¬
Bürdig, wenn Angelegenheiten der Kunst vom politischen
Standpunkt aus beurteilt werden. Es wird durch solche
*Vermengung der Kunst mit der Politik der Kunst ge¬
schadet und der Politik nicht genützt. Die Erfüllung
unserer staatsbürgerlichen Pflichten wird in keiner Weise
davon behindert, daß wit dem menschlichen Genius huldi¬
en, in welcher Nation immer er Gestalt annimmt“
eroer, Wägs. 1914
Theater, Kunst, Musik.
Hofburgtheater.
Wieder einmal steht das Hofburgtheater im Mittel¬
punkt (einer „Affäre oder besser: von unausgesetzten
„Affären: Im Hause selbst weiß man freilich nichts
von ihnen, man hat inmitten der tüchtigen und rührigen
Arbeit, die geleistet wird, offenbar gar nicht Zeit, dar¬
über nachzudenken, was in aller Welt denn die gewissen
Zeitungen eigentlie mit der jeweiligen neuesten
„Affäre“ meinen können. Auch das Publikum ist er¬
staunt. Es sieht in diesem Theater sehr anständige Neu¬
aufführungen alter Werke, es hat unlängst einer Neu¬
heit, dem Drama „Hildebrand“ von Lilienfein, begeister¬
ten Beifall gezollt, es ist zufrieden. Auch der Kassier ist
zufrieden. Nur die gewisse Wiener Presse ist unzufrie¬
den. Sie erfindet morgens und mittags und abends
unermüdlich „Affären“. Beispielsweise: Fall Bleibtreu.
Die Künstlerin fühlte sich zurückgesetzt und unbefriedigt.
Sie glaubte sich zu spärlich mit neuen Rollen bedacht
und fand ihr Einkommen zu gering. Derlei ist vorge¬
kommen, seit Theater bestehen, und wird vorkommen,
solange es solche gibt. Wochenlang wurde der „Fall¬
Bleibtreu“ durch die Blätter geschleift, in Feuilletons,
in Tagesberichtsartikeln. Es regnete giftige Hiebe gegen
den Burgtheaterdirektor, obwohl sich jeder Schuljunge
sagen muß, daß er zumindest für die angeblich zu geringe
Gage der Frau Bleibtreu nicht verantwortlich gemacht
werden kann. Plötzlich trat Stille ein. Was war ge¬
schehen? Dem Direktor war es gelungen, mit der burg¬
theatermüden Künstlerin eine Einigung zu erzielen.
Das stand in den Zeitungen, die es überhaupt brachten,
als versteckte, zweizeilige Notiz. Es war nämlich ein
offensichtliches Verdienst des Direktors, daß uns die ge¬
schätzte Künstlerin erhalten blieb. Und von Verdiensten
des Herrn v. Millenkovich wird die Presse, von der hier
die Rede ist, niemals, sicher niemals etwas wissen. Das
stand in jener Sekunde fest, in der ihm in seiner An¬
trittsrede das Wort vom christlich=germanischen Schön¬
heitsideale über die Lippen kam, dieses Wort, das ihm
die christlich=deutsche Bevölkerung hoch anschrieb und das
den anderen so bös in die Knochen gefahren ist, ein
kühnes, tapferes, ehrliches Wort. — Also der „Fall
A###t### # „„„rlohtat. Mo nun geschwind eine
29. Mai 1978.
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B
fall Ausdruck zu geben, wurde aber niebergezischt. Mar
sah ihn erstaunt an, ob er denn die „heutigen Blätter“
nicht gelesen habe? Na also! Da stand doch, daß die ger¬
manische Heldenwelt ein Humbug sei, zu der wir keine
Beziehungen mehr haben! Da war doch über den „Hilde¬
brand“ so gewitzelt, daß sich wirklich kein „besserer.
Mensch mehr trauen durfte zu sagen, das Stück geszue
ihm. — Es ist die selbstverständliche Freiheit der Kritik.
ein Stück zu loben oder es abzulehnen. Sehr fraglich aber
scheint uns, ob die Kritik das Recht hat, den Wert eines
ernsten Bühnenwerkes durch Späße und satirische Glos¬
sen unsachlicher Art so geschickt in das Gebiet des Lächer¬
lichen hinüberzuschwindeln (wohin ja bekanntlich vom
Erhabenen nur ein Schritt ist), daß kaum mehr ei Zu¬
schauer wagt, seine andere Ansicht über die Dichte g
merken zu lassen.
Nun sind auch die Kaffeehauswitze über „Hilde¬
brand“ allgemach verebbt und man kann auf die neueste
„Burgtheateraffäre“ neugierig sein. Sie wird nicht lange
auf sich warten lassen, denn die Phantasie der Leute, die
berufsmäßig solche „Affären“ erfinden, ist üppig genug.
Gestern fragte uns eine literarische Jüdin: „Wissen Sie
schon, daß der Millenkovich bereits gegangen ist?“
„Schon?“ erwiderten wir kühl. „Vielleicht eilen Ihre
Wünsche den Tatsachen doch etwas gar zu weit voraus.“
Man stirbt glücklicherweise nicht daran, daß hundert¬
Totengräber schon an der Grube schaufeln.