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1. Miscellaneous
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Kunst und Wissen.
Frau Gittas Sühne.
(Erste Aufführung im Burgtheater.)
Tei äußeren Handlung liegt eine wahre — nein, eine
wirkliche Begebenheit zugrunde. Eine verheiratete Frau ist
einem verheirateten Manne durch inniges, den anderen sorg¬
fältig verheimlichtes Liebesverhältnis verbunden. Durch den
schrecklichen Zufall eines plötzlichen Todes, der während des
Beisammenseins den Mann ereilt, steht die Frau vor der
Gefahr der Entdeckung; da siegt die Angst vor gesellschaftlichen
Unbequemlichkeiten über die Liede, die einstmals kühn genug
war, sich über alle Bedenken hinwegzusetzen, ja in ihren
stolzesten. Augonblicken aus dem Dunkel des Glücks in das
strahlende Licht der Offenheit treten wollte. Die Frau ent¬
flieht und überläßt die Leiche ihrem Schicksal. Soweit die
Geschichte, die einmal passierte und in der Welt, die
sich Cottage nennt. lebhaft erörtert wurde: denn schließlich
verrät sich die Frau ja doch irgendwie. Diese Welt hat ihren
Eine enge Welt
Dichter und der heißt Arthur Saninler.
mit ihren auf Geld, gute Gesellschaft, Inzucht der Menschen
und Gedanken eingeschränkten Voraussetzungen; Fleichwoobl ein
Dichter, just darum, weil er aus den Besonderheiten einer
schmalen Wirklichkeit doch immer die gültige Form einer
lebendigen Wahrheit zu ziehen sucht und sie oft geuug finder.
ebeiter Zeitung, Wien
6. Februar 1920
Nr 38
Auch aus jener Begebenheit warde das Kunstwerk einer
kleinen Rovelle.
Dem Schauspiel, das uus derselbe bebauerliche Vorsell
in „Frau Gittas Sühne“ bietet, ist alles Leben ausgetriebee
Leben im höheren Sume einer knstlerischen kbahrheit, ja
Leben auch im Sinne i#r gemeinen Wirklichkeit. Um so gründ¬
licher, je mehe für das eine mühselige Realistik, für
das andere mystische Psychologie aufgeboten wird. Herr
Trebitsch läßt Mann und Frau im Absteigqvartier — hor
78, vornehmes Cottage! — zusammenkommen, und hier
rühit den schuldigen Ehebrecher der Schlag. Sehr, sehr
peinlich für die Frau, für die Familie, fürs Kottage:
die Welt immerhin hat andere Sorgen, andere Sorgen am
gerabe in der Problemen der geschlechtlichen Beziehung. Der
Boden, dem diese eine Voraussetzung entwachsen ist,
durchaus echt, wie ja schon der Name „Gitta“ echtestes-Cottage
ist; aber darauf allein bleibt selbst die Wirklichkeit, gar
Wahrheit des Stückes beschränkt. Frau Gitta muß ihre Feigheit
sühnen; gut. Aber wie, das ist so erklügelt, so über= und du che
einandermotiviert, daß alle die vielen guten Absichten des Ver¬
fassers, die man ohneweiters anerkennen muß, sein qualvollet
Mohen um Probleme, die nur deshalh sind, weil er sie aus¬
heckt, und nur so lange, wie er sie braucht, ihn nur um so weiter
und um so gewisser von dem Ziel der dramatischen Kunst
entfernen. Menschlichkeit wird hier nicht zu künstlerischer Wahr¬
heit erhöht, ja aus der Wirklichkeit wird nicht einmal Theater.
sondern ein Gedachtes, Gespinst und Gespenst zugleich, ohne
Kern, ohne Leben, ohne Blut. Eine Gestalt möchte ich gern
ausnehmen. Das ist die der Tochter des Toten, die ohn¬
Schwanken eine inbrünstige Liebe der noch unbekannten
Geliebten des Vaters entgegenträgt; die Fau, die er gellebt,
muß dieser Liebe durchaus würdig gewesen sein. Dies ist eine
wahrhaft poetische Idee, und Herr Trebitsch mag stolz arauf
sein, daß ihm diese Idee sichtbar wurde. Doch wie er dieses
Licht nützt, verdient wahrhaftig weit weniger Lob. Die tragische
Wendung, daß ja gerade die Liebe des Kindes die Erbärmlich¬
keit jener Todesstunde der Fran als Schuld auf die Seele
wälzt, wird zu einer theatralisch zwar nicht unwirksamen.
menschlich und künstlerisch doch ganz unmöglichen
Rührszene verfälscht. Nicht zuletzt darum, weil auch diese Gestalt
Obfekt einer psychologisierenden Methode wird, die zuerst jede
Psyche, das heis Seele austreibt, dann den toten Körper mit
Seelenfleckchen aus Theorien und fremden Dichtungen wieder
in Gang setzen will. Hier wie in anderen Gestalten 1o