Faksimile

Text

box 42/1
Miscellaneous
III.
2. November 1920
Seite 5
Das süße Mädel ist jetzt verschwunden mit der ganzen
Mittelstandsschichte, aus der es stammt. Noch immer kommt das
Vorstadtmädel, wie die Motte zum Licht, in die innere Stadt
mit ihren Kabaretts und Bars, Nachtlokalen und Luxus¬
restaurants, aber neben ihm ist nicht mehr ein Student oder Leut¬
nant, ein Fabrikantenssohn oder ein Bankbeamter, sondern meist ein
dicker Herr von ungarischer Herkunft mit fetten Fingern oder ei¬
fahles Vorstadtbürscherl mit „Schiebergürtel oder ein Lebe¬
jüngling, der vor kurzer Zeit sich erst von einer Maniküre, einem
Schneider und einem Schuster aus einer Rohform in einen
Menschen verwandeln ließ. Sie sitzt, ohne zu plaudern, müde
Glossen über Kunst und Kultur. aus den dunkel umrandeten Augen blickend, die Zigarette lässig
zum Munde führend, neben ihrem Begleiter, der in seinem Notiz¬
Vorstadtmädel.
buch Ziffern nachprüft oder mit einem Vorübergehenden ein
Den
Gespräch führt, aus dem man in der Entfernung nur das Wort
„Waggons hört. Sie trägt auch nicht das einfache kleinbürgerliche
Max Graf.
Kleid, das mit irgendeiner Masche aufgeputzt wird, sondern hat
Kleine Koketten, Kinder der Wiener Vorstadt, sitzen in allen
nach großer Kokottenart einen pelzbesetzten Cape über ihre Schultern
Kaffeehäusern, das Kleid bis knapp über die Knie, die Beine mit
geworfen und trägt ein sackartiges, oben und unten kurzes Kleid,
den dünnen Seidenstrümpfen eines über das andere gelegt, in der
das fließend und wallend die Geschlechtsmerkmale verwischt und die
Hand die Zigarette; sie gehen über die Kärntnerstraße, füllen die
Frau als ein Mittelding zwischen einem Mädchen und einem Buben
Restaurants, Bars und Tanzlokale, den Cavaliere di grazia an scheinen läßt. Am schmalen Handgelenk klappern die Goldreifen.
der Seite, der entweder ein ausländischer Offizier in Zivil, ein
Seidenstrümpfe und hohe, spitze Schuhe lassen das Bein schmal
Kaufmann aus Jugoslawien oder Italien, ein Schieber oder ein
erscheinen. Das Vorstadtmädel hat sich eben zur Kokotte verwandelt,
Ottakringer Schliefert ist, der seine Brieftasche mit Tausenden
zu einem modischen Instrument der Lust für solche, die es in
gespickt hat. Es hat ihrer in Wien wohl niemals so viele gegeben
Restaurants und Bars, in Theater und Tanzlokale führen können
als in diesen Tagen, wo der Reiz schnell erworbenen Reichtum
und rasch erworbenes Geld auf den Tisch werfen wollen. Es ist
lockt und in den kleinen und mittleren Bürgerhäusern die Armut nicht mehr wienerisch, nicht mehr ein fröhliches Kind der natür¬
und die Not eingezogen ist. In der verarmten, hungernden Stadt lichen Sinnlichkeit, das etwas vom Leben genießen will, sondern
aber hat das Rascheln der Banknoten einen verführerischen Klang
trägt in den Augen und um die Lippen die Züge einer Zeit, in
dem junge und alte Weiblein nachziehen, wie die Mäuse den welcher man mit gierigem Gelderwerb, schamlosem Erraffen schnell reich
Ton der Pfeife des Rattensängers von Hameln; in den Kaffee
werden möchte mit trüben Geschäften, mit Börsenspekulationen, mit
häusern klingt der Ton der Geigen, in den Tanzlokalen tanzen
Hasardspiel, und von Genuß zu Genuß taumelt, während Tausende
in einer von Wein= und Schnapsgeruch, von Zigaretten- und
Existenzen zugrunde gehen. Bei diesem Bacchantenzug der ordi¬
Bratendunst erfüllten Luft Tänzerpaare die neuesten Fortroits, in
nären Instinkte wird auch das Wiener Vorstadtmädel mitgeschleift,
den Auslagen hängt Pelzwerk, glitzert der Schmuck. Es ist
und sie tanzt hastig genießend mit, aber wenn sie auch kostbare
schwer, zu widerstehen, wo der Gegensatz zwischen Armut und
Kleider und Pelzwerk trägt, ihr unbefangenes Lachen, dieser
Reichtum riesengroß geworden und die alte bürgerliche Mittel¬
Naturlaut der Wienerin, an dem man sie sofort erkennt, ist schon
schichte zugrunde gegangen ist.
lange verstummt.
Das „süße Mädel“ Wiens hat in vielen Hungerjahren
seine Formen verloren, und muß, da die frische Farbe geschwunden
Die
ist, Rot auflegen. Will es noch etwas vom Leben genießen, so
muß es sich eben den neuen Schiederzeiten anpassen, denn die
Zeit der süßen Mädel, die Artur Schnitzler mit elegischer Zäri¬
lichkeit besungen hat, ist vorbei. Es waren eben andere Zeiten,
als noch an jeder Straßenecke nach Geschäfts= oder Bureauschluß
jene hübschen Gestalten auftauchten mit echt wienerischen Gesichtern
unter dem einfachen Hütchen, ein Band im Haar, Lebenslust in
den Augen, die gerne lachten, mit jener natürlichen Anmut,
die auch in einfachem Kleid sich zur Geltung gebracht
hat. Viel war es nicht, wonach ihr der Sinn stand: ein netter
Freund, der auch ein wenig bemittelter Student sein konnte, man
war nicht ehrgeizig und wollte nur vergnügt plaudern und gut¬
mütig beisammen sein, ein Ausflug auf den Kahlenberg oder
zum Heurigen, bei dem man sich zum „Du zusammenfand,
Nachtmahl im bürgerlichen Vorstadtgasthaus, eine Operetten¬
vorstellung mit der Niese de der Kartonsch. Man strebte aus dem
kleinbürgerlichen Milieu selten heraus und blieb auch bei
Küssen und beim Lieben kleinbürgerlich und mußte schon
ein Ballettmädchen sein, die ebenfalls aus Vorstadt¬
häusern ihre natürliche Liebenswürdigkeit mitgebracht haben,
wenn man den Ehrgeiz hatte, mit einem „Kavalier
beim Sacher zu soupieren oder im Fiaker zur Freudenau
zu fahren. Das war sozusagen das höchste Avancement des
Wiener süßen Mädels". Wer nicht so hoch hinausstrebte
und nicht in Kavallerieoffizieren, jungen Adligen oder reichen
Jünglingen aus Bank= oder Industriekreisen sein Ideal sah, blieb
in seinem bürgerlichen Kreis, aß, wienerisch plaudernd, seinen
Zwiebelrostbraten oder sein Schnitzel, trank seinen Achtel Gespritzten,
saß im Hinterstüchen von Zuckerbäckereien und knabberte an einem
Baiser mit Obersschaum, ging Hand in Hand auf den Kahlen¬
berg, oder wenn es hoch ging auf den Anninger oder spazierte in