I, Erzählende Schriften 46, Parabeln, Seite 3

46. Parabeln
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„OBSERVER
I. österr. behördl. konzessioniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZEILE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
Die Fledernaus, Wier
29.12.1934
vom:
Artur Schnitzler (aus dem Nachlaß, unveröffentlicht):
Parabel
Der Sohn des Dichters, Regisseur Heinrich Schnitzler,
stellt uns diese unbekannte Dichtung seines Vaters zur Verfügung.
An einem schönen Sommertag ritt ein Reiter in heiteren Gedanken seines
Wegs, als er am Rande der Landstraße einer Kapelle gewahr wurde und nach
seiner frommen Art sich gedrängt fühlte, darin seine Andacht zu verrichten. Er
band sein Roß an einen Baum, trat in die Kapelle und ließ ein inbrünstiges
Gebet zu Gott aufsteigen, als er merkte, daß sich die rechte Sammlung in seiner
Seele nicht einstellen wollte; und bald entdeckte er zu seinem Schrecken, daß er,
statt seine Gedanken zu Gott emporzurichten, immer an sein Rößlein denken
mußte, das draußen wohl angebunden, aber doch ohne weitere Bewachung des
Herrn wartete. Und binnen kurzem war ihm wirklich, als hörte er draußen ein
verdächtiges Geräusch. Rasch erhob er sich von den Knien und kaum war er ins
Freie getreten, so sah er, wie er beinahe schon gefürchtet, ein paar hundert
Schritte entfernt einen Unbekannten auf dem Roß ins Weite sprengen. Weit
und breit war kein anderer Mensch zu sehen, und als endlich auf sein Rufen
und Schreien einige Landleute herbeikamen, war der Dieb auf seiner leicht¬
füßigen Beute längst verschwunden. Schon drängte sich ein Fluch dem Bestohle¬
nen auf die Lippen, als ihm zur rechten Zeit einfiel, daß ihm nur nach Recht
geschehen war, indem Gott ihn auf solche Weise für seine Unaufmerksamkeit
im Gebet gestraft habe. Hiebei beruhigte er sich fürs erste, und war schon ganz
bereit, was ihm begegnet, als einen neuen Beweis für Gottes Allgegenwart und
Gerechtigkeit zu preisen — als er erfuhr, daß der Roßdieb eingefangen und auf¬
gehängt worden war. Hierüber aber geriet der fromme Mann in heftige innere
Gewissenszweifel, da er ja wußte, daß jener Dieb nur das Werkzeug eines gött¬
lichen Willens gewesen war und somit keine Strafe verdient hätte. Doch er er¬
innerte sich allmählich, daß Gott auch schon in vielen anderen Fällen allerlei
Verbrechen, die doch auch nur mit seiner Zustimmung, ja, auf sein Gebot hatten
geschehen können, auf das härteste, sei es auf einfachem Weg oder durch Ver¬
mittlung menschlicher Richter, gestraft hätte und daß auch eine solche Be¬
strafung von den Priestern und anderen weisen Männern als Beweis gött¬
licher Allgegenwart und Gerechtigkeit gepriesen worden war. So gab er es denn
für eine Weile auf, der Sache weiter nachzugehen, bis ihm eines Tages bekannt
wurde, daß der Richter, der das Urteil über den Pferdedieb gesprochen, in der
Stunde darauf eines plötzlichen Todes verblichen war. Nun traten neue Zweifel
in die Seele des frommen Mannes, und lange erwog er, auf welche Weise das
Hinscheiden des Richters, sofort nachdem er von Amts wegen und nach bestem
Wissen und Ermessen ein gerechtes Urteil gesprochen, zu erklären sei — bis er
diesen Tod, wie durch eine plötzliche Erleuchtung, als Gottes unerforschlichen
Ratschluß erkannte. Wer aber hatte ihm diese Erleuchtung gesandt? Gott.
*
*
Die Redaktion hat diese Parabel einem Theologen vorgelegt, um die Stimme der Kirche
zu der des Dichters zu hören. Der geistliche Herr antwortete uns:
„Hier ist im Verlauf einer schlichten Erzählung an ein tiefes Geheimnis gerührt, an
das Geheimnis der Gottesführungen. Zwei theologische Grundbegriffe werden gestreift,
der Begriff der Teleologie und der Theodizee. Gottes Ziel mit den Menschen oder Gottes
Plan mit der Welt erscheint dem Reitersmann des Dichters als ein goldener, mit tau¬
send Fragezeichen behängter Vorhang hinter den einfachen und erschütternden Vorgängen
des Alltags. Der Dichter löst diese Fragen nicht mit Worten der Erbauung. Er führt den
Leser mit dem letzten Wort, Gott, lediglich zum Wegschieben aller verstandesmäßigen Er¬
wägungen und zu der Erkenntnis: So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch sind
Gottes Gedanken über den unserigen; darum beschränke sich die Sehnsucht unseres Willens
darauf. das zu tun, was wir nach Gottes Willen tun sollen, was der einzelne
— in
diesem Falle: was der Leser —
nach Gottes Willen tun soll: das oft
genug geoffenbarte Gute!“