I, Erzählende Schriften 42, Der letzte Brief eines Literaten, Seite 1

42. Der letzte
Brief eines Literaten


Gedanken Schnitzlers
uber-Kunst
Aus dom Nachlaß von Arthur Schnitz
ler teilt die „Neue Rundschau“ Gedan¬
ken über Kunst mit:
Dramatiker sein, heißt an den freien
Willen glauben wie, nein, als einen Gott.
Denn was ist das Drama? Der Widerstand,
der Kampf des Einen mit dem Schicksal.
Was aber ist das Schicksal? Die Summe,
das Quadrat, kurz, irgend eine Zusammen
fassung aller anderen freien Willen, plus
den unabänderlichen Naturgesetzen. Natür¬
ich gibt es stärkere und schwächere freie
Willen. Nur im stärksten ist Gott, aber wir
wvissen nicht, wo der stärkste ist, da hier
der Erfolg keineswegs entscheide“ und uns
jedes andere sichere Kriterium fehlt. Was
aber ist Zufall? Offenbar nur dasjenige, was
von keinem Willen, was nicht von einel
menschlichen Entscheidung abhängig ist.
Und das Schicksal daher ein Gemisch des
cigenen Willens, des Willens der anderen
und des Zufalls. Aber nicht nur der Zufall
ist vorher nicht zu berechnen, sondern auch
die Erscheinungsformen jedes freien Wil
lens, der nicht in uns selbst wirksam ist.
Alles hat seinen Grund, aber nicht alles hat
seinen Sinn, zum mindesten einen uns
faßbaren. Nehmen wir an, jemand stolperte
über einen Kirschkern, der einer Kirsche
angehört, die im vorigen Jahr vom Baum
flel und verfault ist. Hier ist alles ausge
schaltet, was nur im entferntesten mit einem
menschlichen Einzelwillen zusammenhängt.
Trotzdem kann es wie tausend andere ähn¬
liche Zufälle Schloksal werden.
Jedes Wort hat fließende Grenzen; diese
Tatsache zu ästhetischer Wirkung auszu¬
nützen, ist das Geheimnis des Stils.
Es gibt bedeutende Kunstwerke,
deren

Bedeutung zu verstehen nur einer geringen
Anzahl, wenn auch höchst erlesener Geister.
vorbehalten bleibt. Und oft ist man ver
sucht zu fragen, ob es in solchen Fäller.
immer das Kunstwerk selbst ist, das diese
Kenner beglückt, oder vielmehr der Stoh
auf ihr Kennertum.
Kein Zweifel, daß diese Eigenschaft des
Beglückens geringeren Kunstwerken manch¬
mal in höherem Maße innewohnt als man¬
chen Genlewerken. Und es ist keineswege
mmer nur die große Menge, die sich be¬
glückt fühlt, sondern oft gerade jener er¬
esene Kreis, der fähig ist, das Genie zu er¬
kennen.
Manche von solchen geringeren Talenten.
selbst vom Dasein bewegt und erfüllt, sind
gerade dadurch befähigt, die Seelen anderer
Menschen zu bewegen und zu erfüllen in
einer Weise, wie es manchem großen
Dichter nicht vergönnt ist.
Man verwechselt Phantasie und Vor¬
stellungsgabe. Vorstellungsgabe ist die
höhere Funktion. Phantasie ist viel häufiger
als Vorstellungsgabe. Im Traum hat jeder
Mensch Phantasie, keineswegs Vorstellungs¬
gabe.
Eine seltsame Wechselwirkung entwickelt
sich zuweilen zwischen dem Dichter und
seiner Gestalt. Die Gestalt — und das vor
allem ist es, wodurch sie sich von der Figur
interscheidet — gewinnt in immer höherem
Maße Eigenleben, je längere Zeit seit ihrer
Erschaffung verflossen ist; der Dichter ge¬
rät zu ihr allmählich in ein Verhältnis, wie
zu einem nicht von ihm, sondern von Gott
geschaffenen Wesen, das mit ihm, dem
Dichter unter gleichen Gesetzen steht und
die gleiche irdische Luft atmet. Und von
manchem Spaziergang mag er in reinerer
ind beglückterer Stimmung heimkehren,
wenn ihn eine solche von ihm selbst ge¬
schaffene Gestalt, als wenn irgendein sterb¬
licher Mensch ihn begleitete.
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