Correspondants dans loutes les grandes villes
Ertratt du Journal=GESASZLIGER ZpminE
Adresse:
18. JIN 1998
Dale.
Therese
Der neue Schnitzler!
2O
Therese ist die Tochter eines strammen Offiziers
der K.K.=Armec. Trinter, Spieler, größenwahnsin¬
nig geht er in einem Irrenhaus in Salzburg an
Paralyse zugrunde.
Thereses Mutter ist eine nicht ganz einwandfreie,
österreichisch=degenerierte Hausfrau, mit allerlei see¬
lenschnüfflerischen, kupplerischen Allüren! Nach dem
Tod ihres Mannes entdeckt sie ihr Talent zur Ab¬
fassung von Kitschromanen, denen Therese oft gegen
Barbezahlung Stoff aus ihrem eigenen Liebesleben
liefert. Wie fremd steht Therese dieser Dame Ro¬
manschriftstellerin, die zufälligerweise ihre Mutter ist,
doch gegenüber!
Ihr Bruder Karl? Ein ehrgeiziger, kaltberechnen¬
der Strebertyp, der es zu einer reichen Ehe alten
Stils und zum — Herrn Abgeordneten bringt, und
sich um seine Schwester nur kümmert, wenn sein Geld
oder sein Ruf durch ihre Armui oder durch ihren
Ruf gefährdet werden könnte.
So ist der Kreis, aus dem Therese stammt. Und
Therese selber? Es ist wenig Außerordentliches an
ihr, es sei denn, daß man ihre Kraft im Ertragen
eines ärmlichen Lebens, ihre Zähigkeit im Ueber¬
winden ihrer Gefühlsenttäuschungen, der Stolz,
dem sie ihre innere Selbständigkeit trotz allem
bewahrt, zu den außergewöhnlichen Charakteranla, n
#e
rechnen dürfte. Beinahe zu fügsam duldet sie;
##terzieht sich allem, revolutioniert nie... Darm
##ie wohl noch die Frau von früher.
auch hätte Auflehnung gegen ihr Schicksal
egibt ihren Jugendfreund preis, einen
Fliebten, treuen Jungen — mit dem sie
später
wieder zusammenführt — un
fällt einige
# allabendlich einem smarte
Leutnant in Stul
Herz. Natürlich ist er ihr
„untreu“, geht von i###, wie jeder Mann im Lauf
des Lebens von ihr gehi
Sie nimmt in Wien
Stelle als Erzieherin an.
Mit diesem Schrif
Dasein besiegelt — das Leben einer Ange
stef
die erzieht, erträgt die Abhängigkeit und lebt dafü
an ihren freien Nachmittagen und Sonntagen ih
eigenes Lehen ...
Sie wechselt die Stellen minde
stens so oft wie ihre Freunde und Geliebten. Si¬
sieht in unzählige Familienverhältnisse hinein —
wie reich ist Schnitzlers Kenntnis! Sie verschenkt ihr
Herz an Kinder, die sie handkehrum vergessen. Sie
verschenkt es auch einem losen Fabulierer, dem „Ma¬
ler“ Kasimir Tobisch! Was ist er doch für eine pos¬
sierliche, pfauenfedergeschmückte Hochstaplernatur!
Wie rasch vergißt er Liebesstunden, wie klug weiß er
zu verduften, als er hört, daß Therese in andern
Umständen ist! Wie kann er doch schwindeln, und
wie trefflich versteht er die Technik, eine Frau „ab¬
zuhängen“
eine Fähigkeit, die bei allen Männern
des Schnitzlerischen Buches hochentwickelt ist!
Therese gebiert irgendwo in einer Pension ihr
Kind, einen Knaben. Mit dieser Geburt ist ihr
Schicksal zum zweitenmal festgelegt. Das Kind wird
bei Bauersleuten untergebracht. Therese besucht es,
sorgt sich um sein Werden und Wachsen, spart,
schafft für sein Kostgeld; ihr Kind ist, neben den
Männern, die sie im Lauf der Jahre kennen und
lieben lernt, ihr zweites verborgenes Leben neben
ihrem offiziellen als Erzieherin.
Das Leben fließt weiter — wie ein breiter vol¬
ler Strom läßt es Schnitzler an uns vorbeiziehen.
Neue Stellen, andere Kinder, andere entgegenkom¬
mende Hausherren, neue freundliche oder bissige Her¬
rinnen! Im Ganzen ist aber doch eine Stelle wie
die andere: Man wird bezahlt, man hat sich zu fügen
— oder man kann gehen, die Türe ist offen. Dank¬
barkeit der Zöglinge? Kinder sind Kinder.
Und Männer sind Männer. Therese gibt Leiden¬
schaft, Liebe, erhofft seelische Dauer — was sie er¬
hält, ist meist flüchtige Lust! Die Türe ist offen,
auch bei den Männern — man kann gehen. Und
immer geht sie innerlich bochaufgerichtet von ihnen,
nie demütigt sie sich — insofern hat sogar eine Er¬
zieherinnenstelle innere Unabhängigkeit zu verschen¬
ken! Weshalb kann sie keinen Mann auf die Dauer
fesseln?= Weil sie zu anständig, zu wenig berechnen¬
Therese
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35. T. 1
des Weibchen ist? Innerlich zu selbständig, zu ab= Lektüre findet man den Ton fast allzutrocken in
geschlossen, zu überlegen? Oder einfach, weil sie
seiner Sachlichkeit —
bis man sich den Untertitel
um die letzte, unabänderliche Einsamkeit aller Men¬
des Romans „Chronik eines Frauenlebens“ nochmals
schen weiß? Vielleicht auch das.
ins Bewußtsein ruft.
Sie schilt sich oft dumm, daß sie so heimatlos ist.
Eine Chronik, ja! Aber wie gepreßt voll ist sie!
Sie mietet eine kleine Wohnung, gibt Stunden,
Kein „moderner“ Roman, gewiß nicht, auch die Pro¬
schlägt sich schmal durchs Dasein. Sie liebt eine
bleme sind es nicht, falls man bei dieser objektiven
Schülerin — wie entzückend verhalten und zart schil¬
Schilderung überhaupt von „Problemen“ reden darf.
dert Schnitzler diese Episode! Der Vater ihrer Schü¬
Dafür aber bietet er in seinem unabänderlichen Ab¬
lerin wird ihr Freund, ihr Bräutigam, will sie hei¬
lauf ein erschütterndes Lebensbild.
raten — doch vorher soll ihr Junge nach Amerika
Und auch diese Erkenntnis weckt Schnitzlers Buch:
geschafft werden — sie wehrt sich dagegen. Ihr Sohn
der Naturalismus hat heute noch — oder heute wie¬
ist allerdings nicht so, wie er sein sollie. Scheu,
der? — größte Bereicherung zu verschenken! Und:
heimtückisch, verlogen von Jugend auf, keiner Güte
Detailmalerei kann, wenn sie im Rahmen des zum
zugänglich. Heute wohnt er bei der Mutter, morgen
Hauptbild Notwendigen geschieht, immer noch Offen¬
verschwindet er in übler Gesellschaft, übermorgen
barungen bringen. Schnitzler besitzt eine eminente
sitzt er im Zuchthaus. Er erpreßt ihr schwerver¬
Habe, Einzelheiten zu sehen, aufzufassen, sie wieder¬
dientes Geld, sie gibt ihm schuldbewußt
hat sie
zugeben, so schlicht und simpel, als ob diese Funktion
ihn nicht geboren?
ihre letzten Rappen. „Mical
des Gehirns zu den Alltäglichkeiten gehörte.
insanity“ konstatiert ihr Jugendgeliebter, der Arzt.
Spannung und Anteilnahme des Lesers lassen
Die Ehe, die endliche Geborgenheit, ist in greif¬
ährend den annähernd 400 Seiten kaum nach. Das
barer Nähe — da wird ihr Freund vom Schlag ge¬
mmt daher, weil das Leben so vor uns steht wie
troffen, sinnlos, dumm, wie der Tod so ist! Und
(ist: reich und arm, voll und leer, schön und häßlich
doch ist sie erleichtert denn liebte sie wirklich ihren
gut und gemein — letzten Endes aber doch wohl
Bräutigam? Liebte sie nicht seine Tochter? Wollte
grausam und dumm: Armut des Geists und Gemjts;
sie nicht bloß Versorgung?
Noi der Einsamkoit, die durchlitten wird; Häßlichkeit
Eines Tages erscheint ihr Sohn wiederum, Ver¬
des Eristenzkampfes — dunkel waltendes Schicksal,
langt Geld, bedrängt sie. Er will mehr, mehr...
das immer wieder stärker ist als bewußter Wille!
Durchsucht ihren Schrank. Sie setzt sich zur Wehr.
(S. Fischer Verlag, Berlin).
Und das einzigemal in ihrem Leben, da sie sich
Elisabeth Thommen.
handgreiflich und tatsächlich zur Wehr setzt, hat sie
auch verspielt: sie erstickt in den würgenden Händen!
ihres Sohnes — das Schicksal hat sich erfüllt
er,
den sie bei seiner Geburt töten wollte, hat nun sie
getötet!
II.
Schnitzler hat tief in das Leben hineingegriffen.
Nur ein Mensch, der weite Bezirke und Schicksale
übersieht und aus einer unerhörten Fülle schöpft,
kann ein solches Buch schaffen. Zu Beginn der
Ertratt du Journal=GESASZLIGER ZpminE
Adresse:
18. JIN 1998
Dale.
Therese
Der neue Schnitzler!
2O
Therese ist die Tochter eines strammen Offiziers
der K.K.=Armec. Trinter, Spieler, größenwahnsin¬
nig geht er in einem Irrenhaus in Salzburg an
Paralyse zugrunde.
Thereses Mutter ist eine nicht ganz einwandfreie,
österreichisch=degenerierte Hausfrau, mit allerlei see¬
lenschnüfflerischen, kupplerischen Allüren! Nach dem
Tod ihres Mannes entdeckt sie ihr Talent zur Ab¬
fassung von Kitschromanen, denen Therese oft gegen
Barbezahlung Stoff aus ihrem eigenen Liebesleben
liefert. Wie fremd steht Therese dieser Dame Ro¬
manschriftstellerin, die zufälligerweise ihre Mutter ist,
doch gegenüber!
Ihr Bruder Karl? Ein ehrgeiziger, kaltberechnen¬
der Strebertyp, der es zu einer reichen Ehe alten
Stils und zum — Herrn Abgeordneten bringt, und
sich um seine Schwester nur kümmert, wenn sein Geld
oder sein Ruf durch ihre Armui oder durch ihren
Ruf gefährdet werden könnte.
So ist der Kreis, aus dem Therese stammt. Und
Therese selber? Es ist wenig Außerordentliches an
ihr, es sei denn, daß man ihre Kraft im Ertragen
eines ärmlichen Lebens, ihre Zähigkeit im Ueber¬
winden ihrer Gefühlsenttäuschungen, der Stolz,
dem sie ihre innere Selbständigkeit trotz allem
bewahrt, zu den außergewöhnlichen Charakteranla, n
#e
rechnen dürfte. Beinahe zu fügsam duldet sie;
##terzieht sich allem, revolutioniert nie... Darm
##ie wohl noch die Frau von früher.
auch hätte Auflehnung gegen ihr Schicksal
egibt ihren Jugendfreund preis, einen
Fliebten, treuen Jungen — mit dem sie
später
wieder zusammenführt — un
fällt einige
# allabendlich einem smarte
Leutnant in Stul
Herz. Natürlich ist er ihr
„untreu“, geht von i###, wie jeder Mann im Lauf
des Lebens von ihr gehi
Sie nimmt in Wien
Stelle als Erzieherin an.
Mit diesem Schrif
Dasein besiegelt — das Leben einer Ange
stef
die erzieht, erträgt die Abhängigkeit und lebt dafü
an ihren freien Nachmittagen und Sonntagen ih
eigenes Lehen ...
Sie wechselt die Stellen minde
stens so oft wie ihre Freunde und Geliebten. Si¬
sieht in unzählige Familienverhältnisse hinein —
wie reich ist Schnitzlers Kenntnis! Sie verschenkt ihr
Herz an Kinder, die sie handkehrum vergessen. Sie
verschenkt es auch einem losen Fabulierer, dem „Ma¬
ler“ Kasimir Tobisch! Was ist er doch für eine pos¬
sierliche, pfauenfedergeschmückte Hochstaplernatur!
Wie rasch vergißt er Liebesstunden, wie klug weiß er
zu verduften, als er hört, daß Therese in andern
Umständen ist! Wie kann er doch schwindeln, und
wie trefflich versteht er die Technik, eine Frau „ab¬
zuhängen“
eine Fähigkeit, die bei allen Männern
des Schnitzlerischen Buches hochentwickelt ist!
Therese gebiert irgendwo in einer Pension ihr
Kind, einen Knaben. Mit dieser Geburt ist ihr
Schicksal zum zweitenmal festgelegt. Das Kind wird
bei Bauersleuten untergebracht. Therese besucht es,
sorgt sich um sein Werden und Wachsen, spart,
schafft für sein Kostgeld; ihr Kind ist, neben den
Männern, die sie im Lauf der Jahre kennen und
lieben lernt, ihr zweites verborgenes Leben neben
ihrem offiziellen als Erzieherin.
Das Leben fließt weiter — wie ein breiter vol¬
ler Strom läßt es Schnitzler an uns vorbeiziehen.
Neue Stellen, andere Kinder, andere entgegenkom¬
mende Hausherren, neue freundliche oder bissige Her¬
rinnen! Im Ganzen ist aber doch eine Stelle wie
die andere: Man wird bezahlt, man hat sich zu fügen
— oder man kann gehen, die Türe ist offen. Dank¬
barkeit der Zöglinge? Kinder sind Kinder.
Und Männer sind Männer. Therese gibt Leiden¬
schaft, Liebe, erhofft seelische Dauer — was sie er¬
hält, ist meist flüchtige Lust! Die Türe ist offen,
auch bei den Männern — man kann gehen. Und
immer geht sie innerlich bochaufgerichtet von ihnen,
nie demütigt sie sich — insofern hat sogar eine Er¬
zieherinnenstelle innere Unabhängigkeit zu verschen¬
ken! Weshalb kann sie keinen Mann auf die Dauer
fesseln?= Weil sie zu anständig, zu wenig berechnen¬
Therese
box 6/2
35. T. 1
des Weibchen ist? Innerlich zu selbständig, zu ab= Lektüre findet man den Ton fast allzutrocken in
geschlossen, zu überlegen? Oder einfach, weil sie
seiner Sachlichkeit —
bis man sich den Untertitel
um die letzte, unabänderliche Einsamkeit aller Men¬
des Romans „Chronik eines Frauenlebens“ nochmals
schen weiß? Vielleicht auch das.
ins Bewußtsein ruft.
Sie schilt sich oft dumm, daß sie so heimatlos ist.
Eine Chronik, ja! Aber wie gepreßt voll ist sie!
Sie mietet eine kleine Wohnung, gibt Stunden,
Kein „moderner“ Roman, gewiß nicht, auch die Pro¬
schlägt sich schmal durchs Dasein. Sie liebt eine
bleme sind es nicht, falls man bei dieser objektiven
Schülerin — wie entzückend verhalten und zart schil¬
Schilderung überhaupt von „Problemen“ reden darf.
dert Schnitzler diese Episode! Der Vater ihrer Schü¬
Dafür aber bietet er in seinem unabänderlichen Ab¬
lerin wird ihr Freund, ihr Bräutigam, will sie hei¬
lauf ein erschütterndes Lebensbild.
raten — doch vorher soll ihr Junge nach Amerika
Und auch diese Erkenntnis weckt Schnitzlers Buch:
geschafft werden — sie wehrt sich dagegen. Ihr Sohn
der Naturalismus hat heute noch — oder heute wie¬
ist allerdings nicht so, wie er sein sollie. Scheu,
der? — größte Bereicherung zu verschenken! Und:
heimtückisch, verlogen von Jugend auf, keiner Güte
Detailmalerei kann, wenn sie im Rahmen des zum
zugänglich. Heute wohnt er bei der Mutter, morgen
Hauptbild Notwendigen geschieht, immer noch Offen¬
verschwindet er in übler Gesellschaft, übermorgen
barungen bringen. Schnitzler besitzt eine eminente
sitzt er im Zuchthaus. Er erpreßt ihr schwerver¬
Habe, Einzelheiten zu sehen, aufzufassen, sie wieder¬
dientes Geld, sie gibt ihm schuldbewußt
hat sie
zugeben, so schlicht und simpel, als ob diese Funktion
ihn nicht geboren?
ihre letzten Rappen. „Mical
des Gehirns zu den Alltäglichkeiten gehörte.
insanity“ konstatiert ihr Jugendgeliebter, der Arzt.
Spannung und Anteilnahme des Lesers lassen
Die Ehe, die endliche Geborgenheit, ist in greif¬
ährend den annähernd 400 Seiten kaum nach. Das
barer Nähe — da wird ihr Freund vom Schlag ge¬
mmt daher, weil das Leben so vor uns steht wie
troffen, sinnlos, dumm, wie der Tod so ist! Und
(ist: reich und arm, voll und leer, schön und häßlich
doch ist sie erleichtert denn liebte sie wirklich ihren
gut und gemein — letzten Endes aber doch wohl
Bräutigam? Liebte sie nicht seine Tochter? Wollte
grausam und dumm: Armut des Geists und Gemjts;
sie nicht bloß Versorgung?
Noi der Einsamkoit, die durchlitten wird; Häßlichkeit
Eines Tages erscheint ihr Sohn wiederum, Ver¬
des Eristenzkampfes — dunkel waltendes Schicksal,
langt Geld, bedrängt sie. Er will mehr, mehr...
das immer wieder stärker ist als bewußter Wille!
Durchsucht ihren Schrank. Sie setzt sich zur Wehr.
(S. Fischer Verlag, Berlin).
Und das einzigemal in ihrem Leben, da sie sich
Elisabeth Thommen.
handgreiflich und tatsächlich zur Wehr setzt, hat sie
auch verspielt: sie erstickt in den würgenden Händen!
ihres Sohnes — das Schicksal hat sich erfüllt
er,
den sie bei seiner Geburt töten wollte, hat nun sie
getötet!
II.
Schnitzler hat tief in das Leben hineingegriffen.
Nur ein Mensch, der weite Bezirke und Schicksale
übersieht und aus einer unerhörten Fülle schöpft,
kann ein solches Buch schaffen. Zu Beginn der