I, Erzählende Schriften 35, Therese. Chronik eines Frauenlebens, Seite 31

Therese
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rauchend warteten. Sie begrüßten die Damen mit voll¬
des einen Menschen Therese Fabiani, sondern einen
endeter Höflichkeit, sahen in ihren Uniformen recht ele¬
ganzen Kulturquerschnitt der Vorkriegszeit aus dieser
gant aus — vollendete Kavaliere, dachte Therese — und
beklemmenden Nähe. Da ziehen vielerlei Bürgerfamilien
auf den ersten Blick gefiel ihr der blonde kleine Mensch.
vorüber, reiche und Mittelständler, Kinder kommen und
der Sylvies Geliebter war, viel besser als der andere.
gehen durch die Hände der Erzieherin, da wird ein
Der war ein hagerer, in seiner Figur an Kasimir To¬
Vater, ein Bruder, ein Verwandter oder Bekannter des
bisch erinnernder Mensch mit einem schmalen, fahlen,
Hauses ihr Geliebter, nichts ändert sich als die Er¬
etwas geblichem
scheinung, die Stellung der Menschen zueinander bleibt
Gesicht, schwar¬
immer die gleiche, nah und herzlos.
zem Schnurrbart
Dieses Buch ist in der Art, wie es unpathetisch ge¬
und einem Spitz¬
macht = Pathos hier als jede Gehobenheit der Sprache,
bärtchen, wie es
als literarischer Tick verstanden — und dennoch eine
große Dichtung ist, nicht leicht einzuholen, Ich sage
bei österreichi¬
das absichtlich, weil betriebsame Köpfe darauf ver¬
schen Freiwilli¬
fallen könnten, nach seinem Muster eine literarische
gen und Offizie¬
Richtung „Neue Sachlichkeit in der Dichtung“ zu be¬
ren sonst kaum
gründen. Das Programm wäre leicht gegeben, nach¬
üblich war, und
dem es dem erzählerischen Genie Arthur Schnitzlers
hatte auffallend
gelungen ist, den Typus aufzustellen. Warum es aber
schlanke, allzu ma¬
nicht gelingen wird, die „Therese“ zum Ausgangspunkt
gere Hände, von
einer literarischen Schlagwortrichtung zu machen, das
denen Therese in
liegt darin begründet, daß sie eine Distanz zum Stoff¬
einer sonderba¬
lichen voraussetzt, die heute, wo die Forderung nach
ren, ihr unbegreif¬
Indiskretion und Reportage in der Dichtung erhoben
lichen Weise wie
wird, die wenigsten aufzubringen vermögen. Denn so
gebannt war. Man
paradox es scheinen mag: diese Chronik, die schein¬
dantie ihr. dag 8

K.
bar den rein inhaltlichen Bericht so ausschließlich in
ARTHUR SCHNITZLER
sie gekommen
den Vordergrund rückt, gewinnt ihre eminente künst¬
war; Sylvie führte das Gespräch sofort in ihrer flinken
lerische Bedeutung erst durch die Gelassenheit, mit der
und lustigen Weise, sie redeten alle französisch, der
der Erzähler dem Stofflichen gegenüberstcht. An einer
Blonde sehr geläufig, der andere etwas mühseliger, aber
einzigen Stelle begibt sich Schnitzler seiner Objektivi¬
mit einem viel besseren, wenn auch etwes affektierten
tät, und diese Stelle ist daher allen Beurteilern des
Akzent. Man ging durch die Hauptallee, aber da gab
Buches sogleich aufgefallen: es ist die Stelle, da Therese,
es so viele Menschen — und sie dufteten nicht besonders
von den Händen des bösen Sohnes zu Tode gewürgt.
gut, wie der Hagere bemerkte —, und so nahm man bald
sich erinnert, daß sie ihm einst bei seiner Geburt ge¬
einen Seitenweg, der unter hohen frühlingsgrünen Bäu¬
wünscht hat, er möge sofort sterben. Aus diesem
men in ein stilleres Revier führte. Der Blonde erzählie
psychologisch genialen Angelpunkt läßt Schnitzler das
von seinem vorjährigen Aufenthalt in Ungarn, wohin
gleichsam metaphysische Schuldgefühl seiner Therese
man ihn zur jagd geladen; Sylvie nannte die Namen
entstehen, läßt er den Tod im Muttermord zur mysti¬
einiger Aristokraten, die sie in ihrer letzten Stellung
schen Sühne der Gedankensünde werden. Dadurch
kennengelernt hatte, ihr Freund erlaubte sich freche
kommt ein magisches Moment, das Gesetz der un¬
Anspielungen, die sie lachend hinnahm und mit ähn¬
schaubaren Bindung, einer mystischen Kausalität auch
lichen erwiderte. Der andere, mit Theresen ein wenig
in dieses Buch, das durch Schnitzlers ganzes Werk
zurückbleibend, schlug einen ernsteren Ton an, seine
— vom „Anatol“ bis zum „Spiel im Morgengrauen“ —
Stimme war leise, klang manchmal wie absichtlich ver¬
geht und das ein menschliches Geheimnis offenbart.
schleiert; er hatte das Monokel aus dem Auge fallen
wo scheinbar nur karg und gleichgültig ein gewöhn¬
lassen und sah mit einem blasierten Blick unter etwas
liches Leben berichtet wird.
geröteten Lidern vor sich hin. Er konnte nicht recht
K. H. Ruppel
glauben, daß Therese eine Wienerin sei, eher dächte
man an eine Italienerin, ja eine von den kastanien¬
Leseprobe aus
braunen Norditalienerinnen aus der Lombardei. Sie
nickte nicht ohne Stolz; ihr Vater stammte ja wirklich
ARTHUR SCHNITZLER: Therese
aus italienischer Familie und ihre Mutter aus kroa¬
Chronik eines Frauenlebens
#tischem Adel. Richard wunderte sich, daß sie Erzieherin
Als Therese am Morgen des nächsten Sonntags er¬
sei. Es gab doch so viel andere Berufe, die sicher viel
wachte und den Himmel mit dunklen Wolken verhängt
besser für sie getaugt hätten; mit ihrer Erscheinung,
sah, empfand sie das wie eine Enttäuschung; doch mit¬
ihren strahlenden Augen, ihrem dunklen Organ hätte sie
tags heiterte es sich auf, Sylvie holte Therese am frühen
auf der Bühne gewiß ihren Weg gemacht. Und jeden¬
Nachmittag ab, und man fuhr zum Praterstern, wo
die beiden Herren am Tegetthoffmonument Zigaretten falls blieb es völlig unbegreiflich für ihn, wie man sich
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Energie, Lebensbejahung, Arbei
unbegrenzte Gefühle der Verehn
in jedem geistig ringenden M
einiger Frauen: Dr. Alice Salon
zialen Frauenschule Berlin; Dr.
der mediz. Fakultät Berlin; Dr.
philos. Fakultät Wien; Mary All
Frauenpolizei London; Dr. Wo
logie Bern; A. Kollontay, Ges
Schriftstellerin. Allen diesen Frag
das ist sehr auffallend — ist d
für die Gedanken des Friedens
aktive Teilnahme an internationa
gen und am Völkerbund. Selbs
Lebensbeschreibungen reiche I
ohne den warmen Ton menschlig
Das Werk wird so zum aufrütt
für junge Menschen. Unter der
bei, erhält man als Zugabe ein
europäischer Bürgerhäuser des
hunderts.
ALA MESAMGE