box 6/2
Therese
35 T 9
4
Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
BBRLIN N4
Telefon: D i Norden 3051
Ausschnitt aus:
Berliner Börsen-Zeitung
stadr
24. Aue 1978
Arthur Schnitzlers neuer Roman.
Schnitzlers Lebenswerk enthielt bisher neben der Viel¬
das Religiöse vollkommen: in ihr sind keine Ausblicke ins
zahl dramatischer und novellistischer Dichtungen nur einen
Ewige, nur Einblicke ins Zeitliche, menschlich Bedingte —
Roman: „Der Weg ins Freie". Erst in diesen Wochen
Schnitzler kennt nur menschliche, allzu menschliche Probleme.
erschien das zweite große Romanwerk des Dichters:
Und zeigt sie an den Erscheinungen eines bestimmten, ge¬
„Therese, Chronik eines Frauenlebens"“).
sellschaftlichen Segments, die man allzu voreilig mit ihm
selber identifiziert hat.“
Ueber zwanzig Jahre hindurch hat also Schnitzler die Form
des Romans für seine Dichtung nicht gewählt. Dieser
Innerhalb dieser Grenzen, wie sie Specht mit Be¬
Umstand erscheint bemerkenswert und kann vielleicht zum
rechtigung und Ehrlichkeit zieht, ist aber der Wert der
Aufschluß der ureigentlichsten Natur des Dichters mitver¬
Schnitzlerschen Dichtung bedeutend größer, als jene Tadler
helfen. Besonders, da sich eine ähnliche Erscheinung auch
es meinen. Die Grundmotive seines Werkes, die bereits
im Lebenswerke zweier anderer Dichter zeigt, die in ge¬
kurz angeschlagen wurden, sind für unsere Erkenntnis und
wissem Sinne neben Schnitzler genannt werden können:
Kenntnis alles Menschlichen wichtiger, als jene glauben.
Maupassant und Tschechow.
Mag man über die Wichtigkeit oder Unwichtigkeit mancher
Gestalt in den Dichtungen Schnitzlers streiten, mag man
„Der Weg ins Freie“ enthält gewiß viel tiefe Lebens¬
einen Georg Wergenthin, die ganze Atmosphäre, in der er
weisheit, wertvolle Stellungnahme zu wichtigsten Gegen¬
lebt, als etwas „weichlich“ ansehen. Mag man überdies die
wartsproblemen. Aber vollkommen als Roman ist er nicht.
Welt, in der die Gestalten Schnitzlers sich bewegen, bis¬
Der Anlaß zum Tätigwerden enttäuscht. Gerade die
weilen für überlebt halten, so daß lediglich von diesem
Hauptfigur des Romans, Georg Wergenthin, ist kein
Dichter Vergangenheit dokumentiert werde. Es ist eben gar
Mensch, um den es sich lohnt, soviel zu verschwenden. Und
nicht Selbstzweck, diese vergangene Welt zu dokn¬
barum sind oftmals Stimmen laut geworden, die sich
mentieren; diese —
gegen Schnitzler wandten, gegen diesen Roman, aber auch
t trotz alledem so herrliche —
Schilderung jenes Wiener Bürgertums der Vorkriegs¬
gegen die Gesamtpersönlichkeit des Dichters, für die man
ist durchaus nicht das, was wertbestimmend
jenen „Weg ins Freie“ gern als Beispiel zitierte.
lll das ist Dekoration, Anlaß, nicht Ziel. Schaut man
Man nannte Schnitzler den „Dichter des süßen
tiefer, sucht man zu ergrunden, was hinter jener
Mädels", „einen melancholischen Erotiker". Man warf ihm
Stofflichkeir steht, was ureigentlichstes Thema dieser No¬
allzu große Weichlichkeit vor, allzu große Begrenztheit des
vellen und Dramen ist, dann erscheint vieles begründeter:
Milieus seiner Dichtungen. Und immer wieder wurde
Thema ist nur und allein der Mensch, seine Seele. Hier
gesagt, daß das Erotische in seinen Werken viel zu sehr
wird Unbewußtes zum Bewußtsein gebracht, aufgedeckt,
überschätzt werde.
feinste innere Vorgänge werden gezeigt, Entwicklungen
Vorwürfen dieser Art ist der Biograph Schnitzlers,
einer Psyche dargetan, Insofern geht die Linie Schnitzlers
Richard Specht, in seiner 1922 erschienenen Studi¬
von außen nach innen, es wird geforscht, gegraben. Und
„Arthur Schnitzler“ begegnet. Er bewies, daß diese Tadel
diese Weise entstand feinste Ziselierarveit als ge¬
ungerechtfertigt sind, er deckte die wahren Grundmotive
wolltes Ergebnis, Seelenvorträts, nicht Weltbilder. Diese
der Schnitzlerschen Dichtungen auf. Das Problem der
mögen von manchen mehr gesucht sein, aber deshalb sind
menschlichen Verantwortung spiele in ihnen eine ebenso
jent nicht minder wichtig und wertvoll. Die Fragestellung
große Rolle wie das erotische Problem. Vor allem aber
ist eden nur eine grundverschiedene. Dort wird die Welt
seien von den Gegnern Schnitzlers Motive übersehen
Hauptthema: kulturelle soziologische Probleme stehen im
worden, die von essentieller Bedeutung für sein Wesen
sind: „Die tiefe Unsicherheit der menschlichen Beziehungen,
Vordepgrunde; der Mensch dient höchstens dazu, um eine
die Gefahren, Schwächungen, Erkrankungen, die auch das
Relation zu diesen Problemen herzustellen, sein Schicksal
ist nur als Mittel verwandt um jene Probleme durch eine
scheinbar zweifelloseste Gefühl, die endgültigen Bündnisse,
der Seele bedrohen." Und: „Die geheimnisvollen Zu¬
Handlung lebendig darzustellen. Von dieser Art sind viele
sammenhänge des Lebens, die unerforschlichen, ungeahnten
Werke von Wells und Galsworthy. Bei Schnitzler ist das
Individuum Thema, ein Individuum einer bestimmten
Schicksaisverknüpfungen zwischen Menschen, die vonein¬
ander nichts wissennd deren Dasein doch für den andern
Lebensart, einer bestimmten Gesellschaftsschicht einer be¬
Glück oder Verhängnis sein kann.“
stimmten Veranlagung. Dessen Schicksal, dessen Seele,
Zweifellos ist diese Offenbarung Spechts richtig; in
dessen innere Entwicklung wird gezeigt und begründet.
jeder Zeile jenes neuesten Romanwerks findet sie ihre
So wird hier — durch andere Methode — der Metaphsik
Bestätigung. Ebenso richtig und wichtig ist aber ein
des Menschen nachgegangen, sein Lebenssinn zu erforschen
weiterer Hinweis Spechts. Die Erfüllung mancher Wünsche,
gesucht, seine innersten Beziehungen zu den verschiedensten
die die Tadler Schnitzlers lant werden ließen, lag gar nicht
Problemen, von denen die Erotik eines unter vielen ist,
in der Absicht des Dichters. „Von den beiden übermächtigen
untersucht. Dann entsteht ein Ausschnitt eines Lebent,
Triebkräften der Menschenwelt, dem Hunger und der Liebe,
es ist die Chronik eines Menschen aufgezeichnet, dessen
gibt es bei Schnitzler nur die eine: das Ewigweibliche, das
Inneres dem einen mehr, dem anderen weniger von
nicht immer hinanzieht; der Hunger, die soziale Not, der
Interesse war. Aber dies alles geschieht mit so großer
Kampf ums Dasein scheidet als kunstlerisches Problem bei
Klarheit, mit so rühmenswerter Objektivität, mit so feiner
ihm aus. In Schnitzlers Dichtung fehlt das Kosmische und
Virtuosität und soviel Verständnis um die menschliche
Seele, daß eine Wissensbereicherung aus dem Schnitzler¬
*) S. Fischer, Verlag, Berlin.
schen Werk ebenso möglich und gegeben ist wie aus anderen
Werken, die vielleicht kosmischen, universellen, sozialen
Charakter in stärkerem Maße tragen. Diese Bereicherung
bezieht sich nur auf ein Alind, nicht auf ein Gesamtwelt¬
bild, sondern auf das Bild menschlicher Psyche, des
Menschen überhaupt.
Erklärlich wird die besondere Eigenart Schnitzlers,
wenn man überlegt, daß Schnitzler als Arzt begonnen hat.
Daß er Zeit seines Lebens auch als Dichter diese ärztliche
Herkunft nie verleugnen kann, immer Diagnostiker,
Psychologe blieb. Und dieser Umstand macht seine Dich¬
tung noch wertvoller: weil man wohl behaupten kann,
aß seine Gestalten, ihr äußeres, aber mehr noch ihr
inneres Leben, zwar von dichterischer Phantasie umrahmt,
aber doch nich“ völlig von ihr erfunden sind. Denn ein
Roman, eine Novelle muß heute, falls nicht nur Unter¬
haltungszwecke verfolgt sind, bildend sein und darum
lebenswahr und wissenschaftlich fundiert, sie muß eine
Wissensquelle dorstellen. Das wird bei Schnitzler garan¬
Therese
35 T 9
4
Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
BBRLIN N4
Telefon: D i Norden 3051
Ausschnitt aus:
Berliner Börsen-Zeitung
stadr
24. Aue 1978
Arthur Schnitzlers neuer Roman.
Schnitzlers Lebenswerk enthielt bisher neben der Viel¬
das Religiöse vollkommen: in ihr sind keine Ausblicke ins
zahl dramatischer und novellistischer Dichtungen nur einen
Ewige, nur Einblicke ins Zeitliche, menschlich Bedingte —
Roman: „Der Weg ins Freie". Erst in diesen Wochen
Schnitzler kennt nur menschliche, allzu menschliche Probleme.
erschien das zweite große Romanwerk des Dichters:
Und zeigt sie an den Erscheinungen eines bestimmten, ge¬
„Therese, Chronik eines Frauenlebens"“).
sellschaftlichen Segments, die man allzu voreilig mit ihm
selber identifiziert hat.“
Ueber zwanzig Jahre hindurch hat also Schnitzler die Form
des Romans für seine Dichtung nicht gewählt. Dieser
Innerhalb dieser Grenzen, wie sie Specht mit Be¬
Umstand erscheint bemerkenswert und kann vielleicht zum
rechtigung und Ehrlichkeit zieht, ist aber der Wert der
Aufschluß der ureigentlichsten Natur des Dichters mitver¬
Schnitzlerschen Dichtung bedeutend größer, als jene Tadler
helfen. Besonders, da sich eine ähnliche Erscheinung auch
es meinen. Die Grundmotive seines Werkes, die bereits
im Lebenswerke zweier anderer Dichter zeigt, die in ge¬
kurz angeschlagen wurden, sind für unsere Erkenntnis und
wissem Sinne neben Schnitzler genannt werden können:
Kenntnis alles Menschlichen wichtiger, als jene glauben.
Maupassant und Tschechow.
Mag man über die Wichtigkeit oder Unwichtigkeit mancher
Gestalt in den Dichtungen Schnitzlers streiten, mag man
„Der Weg ins Freie“ enthält gewiß viel tiefe Lebens¬
einen Georg Wergenthin, die ganze Atmosphäre, in der er
weisheit, wertvolle Stellungnahme zu wichtigsten Gegen¬
lebt, als etwas „weichlich“ ansehen. Mag man überdies die
wartsproblemen. Aber vollkommen als Roman ist er nicht.
Welt, in der die Gestalten Schnitzlers sich bewegen, bis¬
Der Anlaß zum Tätigwerden enttäuscht. Gerade die
weilen für überlebt halten, so daß lediglich von diesem
Hauptfigur des Romans, Georg Wergenthin, ist kein
Dichter Vergangenheit dokumentiert werde. Es ist eben gar
Mensch, um den es sich lohnt, soviel zu verschwenden. Und
nicht Selbstzweck, diese vergangene Welt zu dokn¬
barum sind oftmals Stimmen laut geworden, die sich
mentieren; diese —
gegen Schnitzler wandten, gegen diesen Roman, aber auch
t trotz alledem so herrliche —
Schilderung jenes Wiener Bürgertums der Vorkriegs¬
gegen die Gesamtpersönlichkeit des Dichters, für die man
ist durchaus nicht das, was wertbestimmend
jenen „Weg ins Freie“ gern als Beispiel zitierte.
lll das ist Dekoration, Anlaß, nicht Ziel. Schaut man
Man nannte Schnitzler den „Dichter des süßen
tiefer, sucht man zu ergrunden, was hinter jener
Mädels", „einen melancholischen Erotiker". Man warf ihm
Stofflichkeir steht, was ureigentlichstes Thema dieser No¬
allzu große Weichlichkeit vor, allzu große Begrenztheit des
vellen und Dramen ist, dann erscheint vieles begründeter:
Milieus seiner Dichtungen. Und immer wieder wurde
Thema ist nur und allein der Mensch, seine Seele. Hier
gesagt, daß das Erotische in seinen Werken viel zu sehr
wird Unbewußtes zum Bewußtsein gebracht, aufgedeckt,
überschätzt werde.
feinste innere Vorgänge werden gezeigt, Entwicklungen
Vorwürfen dieser Art ist der Biograph Schnitzlers,
einer Psyche dargetan, Insofern geht die Linie Schnitzlers
Richard Specht, in seiner 1922 erschienenen Studi¬
von außen nach innen, es wird geforscht, gegraben. Und
„Arthur Schnitzler“ begegnet. Er bewies, daß diese Tadel
diese Weise entstand feinste Ziselierarveit als ge¬
ungerechtfertigt sind, er deckte die wahren Grundmotive
wolltes Ergebnis, Seelenvorträts, nicht Weltbilder. Diese
der Schnitzlerschen Dichtungen auf. Das Problem der
mögen von manchen mehr gesucht sein, aber deshalb sind
menschlichen Verantwortung spiele in ihnen eine ebenso
jent nicht minder wichtig und wertvoll. Die Fragestellung
große Rolle wie das erotische Problem. Vor allem aber
ist eden nur eine grundverschiedene. Dort wird die Welt
seien von den Gegnern Schnitzlers Motive übersehen
Hauptthema: kulturelle soziologische Probleme stehen im
worden, die von essentieller Bedeutung für sein Wesen
sind: „Die tiefe Unsicherheit der menschlichen Beziehungen,
Vordepgrunde; der Mensch dient höchstens dazu, um eine
die Gefahren, Schwächungen, Erkrankungen, die auch das
Relation zu diesen Problemen herzustellen, sein Schicksal
ist nur als Mittel verwandt um jene Probleme durch eine
scheinbar zweifelloseste Gefühl, die endgültigen Bündnisse,
der Seele bedrohen." Und: „Die geheimnisvollen Zu¬
Handlung lebendig darzustellen. Von dieser Art sind viele
sammenhänge des Lebens, die unerforschlichen, ungeahnten
Werke von Wells und Galsworthy. Bei Schnitzler ist das
Individuum Thema, ein Individuum einer bestimmten
Schicksaisverknüpfungen zwischen Menschen, die vonein¬
ander nichts wissennd deren Dasein doch für den andern
Lebensart, einer bestimmten Gesellschaftsschicht einer be¬
Glück oder Verhängnis sein kann.“
stimmten Veranlagung. Dessen Schicksal, dessen Seele,
Zweifellos ist diese Offenbarung Spechts richtig; in
dessen innere Entwicklung wird gezeigt und begründet.
jeder Zeile jenes neuesten Romanwerks findet sie ihre
So wird hier — durch andere Methode — der Metaphsik
Bestätigung. Ebenso richtig und wichtig ist aber ein
des Menschen nachgegangen, sein Lebenssinn zu erforschen
weiterer Hinweis Spechts. Die Erfüllung mancher Wünsche,
gesucht, seine innersten Beziehungen zu den verschiedensten
die die Tadler Schnitzlers lant werden ließen, lag gar nicht
Problemen, von denen die Erotik eines unter vielen ist,
in der Absicht des Dichters. „Von den beiden übermächtigen
untersucht. Dann entsteht ein Ausschnitt eines Lebent,
Triebkräften der Menschenwelt, dem Hunger und der Liebe,
es ist die Chronik eines Menschen aufgezeichnet, dessen
gibt es bei Schnitzler nur die eine: das Ewigweibliche, das
Inneres dem einen mehr, dem anderen weniger von
nicht immer hinanzieht; der Hunger, die soziale Not, der
Interesse war. Aber dies alles geschieht mit so großer
Kampf ums Dasein scheidet als kunstlerisches Problem bei
Klarheit, mit so rühmenswerter Objektivität, mit so feiner
ihm aus. In Schnitzlers Dichtung fehlt das Kosmische und
Virtuosität und soviel Verständnis um die menschliche
Seele, daß eine Wissensbereicherung aus dem Schnitzler¬
*) S. Fischer, Verlag, Berlin.
schen Werk ebenso möglich und gegeben ist wie aus anderen
Werken, die vielleicht kosmischen, universellen, sozialen
Charakter in stärkerem Maße tragen. Diese Bereicherung
bezieht sich nur auf ein Alind, nicht auf ein Gesamtwelt¬
bild, sondern auf das Bild menschlicher Psyche, des
Menschen überhaupt.
Erklärlich wird die besondere Eigenart Schnitzlers,
wenn man überlegt, daß Schnitzler als Arzt begonnen hat.
Daß er Zeit seines Lebens auch als Dichter diese ärztliche
Herkunft nie verleugnen kann, immer Diagnostiker,
Psychologe blieb. Und dieser Umstand macht seine Dich¬
tung noch wertvoller: weil man wohl behaupten kann,
aß seine Gestalten, ihr äußeres, aber mehr noch ihr
inneres Leben, zwar von dichterischer Phantasie umrahmt,
aber doch nich“ völlig von ihr erfunden sind. Denn ein
Roman, eine Novelle muß heute, falls nicht nur Unter¬
haltungszwecke verfolgt sind, bildend sein und darum
lebenswahr und wissenschaftlich fundiert, sie muß eine
Wissensquelle dorstellen. Das wird bei Schnitzler garan¬