33. Traunnovelle
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a. Gn I — . — I. . —
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Verwirrung der Gefühle
Von Dr. Keulers
JENN ein Schriftsteller wie Stefan Zweig von seiner hohen Kanzel herab
seiner Lesergemeinde durch ein Stichwort wie das obige den Grund¬
akkord einer Literaturrichtung angibt, so ist das immer ein Ereignis.
* # Begegnet man der Kritik auch allenthalben mit einer gewissen Skepsis
an dem Geständnis des schaffenden Künstlers kann man nicht vorbeigehen.
Man wird vor solcher Ehrlichkeit vielmehr den Hut ziehen und sich vielleicht zu
einer ehrlichen Gewissenserforschung sammeln.
Stefan Zweig hat zwar höchstwahrscheinlich nicht daran gedacht, mit „Verwir¬
rung der Gefühle“ — der Titel, unter dem er seine neuesten Novellen veröffent¬
licht — eine bestimmte Richtung der jüngsten Novellenliteratur zu kennzeichnen.
Erhat vielleicht nicht einmal beabsichtigt, einen Wesenszug seiner zeitgenössischen
Epiker mit diesem Stichwort festzulegen, sondern er hat einfach intuitiv die Dia¬
gnose über den gegenwärtigen Zustand der menschlichen Gefühlsskala gestellt, die
bis in ihr feinstes Vibrieren vor ihm wie vor keinem anderen offenliegt. Ihn lockt
„Verwegene Lust des schöpferischen Spiels in das dornendichte Gestrüpp des
Herzens und die Wirrnis des Gefühls“.
„Nur dort, nur dort in tödlicher Verstrickung,
Ich fühl's, sind unserer Zweinzit wir entrafft.
Wach wehren wir uns gegen jede Schickung
Und fürchten feig den Sturz zur Leidenschaft.“
Mit ritterlichem Mut bricht der Dichter in einer Badegesellschaft in Nizza eine
Lanze für eine Frau, die nach zweistündiger Bekanntschaft mit einem jungen Ele¬
gant ihren behäbigen, provinzlerischen Gatten und ihre beiden Kinder verläßt.
Vor dem Ansturm des entrüsteten konventionellen Anstandes beharrt er mit einer
selbstverständlichen, fast eigensinnigen Sicherheit in der Ansicht, daß „eine Frau
in manchen Stunden ihres Lebens jenseits ihres Willens und Wissens geheimnis¬
vollen Mächten ausgeliefert sei“. Die Wirkung dieses Manneswortes läßt natürlich
nicht auf sich warten. Schon nach einigen Tagen wird er von der würdigsten der
Damen eingeladen, ihre Generalbeichte — „Vierundzwanzig Stunden aus dem
Leben einer Frau“ — entgegenzunehmen: eine Monte-Carlo-Geschichte mit allem,
was dazu gehört, Spieltisch, blasse Menschen mit zuckenden Nasenflügeln, Ku¬
geln, in denen Schicksale rollen, nächtens ein menschliches Wrack auf einsamer
Bank, eine Frau, die sich an den jungen Menschen klammert, um ihn mit ihrem
Gelde — zu retten natürlich, wozu sonst! — und die zusammenbricht, nicht, weil
er seinen Schwur, vom Spiel zu lassen, nicht hält, sondern weil er sie nicht be¬
gehrt: Enttäuschter Heroismus des Geschlechts.
„Untergang eines Herzens“ die zweite Novelle, ist wie ein einziger Schrei aus der
Brust eines biederen, vielleicht zu bürgerlichen Mannes, der mit Fleiß und Glück
seiner einzigen Tochter den Weg in die Gesellschaft geebnet hat und nun zusehen
muß, wie sich diese Tochter, die er wie seinen Augapfel gehütet, drei Lebemännern
in die Arme wirft. Sonderbar, daß man für diesen Mann, der sich einen Knoten¬
stock kauft, aber nicht den Mut aufbringt, die unsaubeie Gesellschaft ausein¬
anderzutreiben, und gebrochenen Herzens stirbt, nur ein Bedauern aufbringt, an¬
statt ihn wegen seiner Schwäche und Feigheit zu verachten und das Verhalten
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Verwirrung der Gefühle
Von Dr. Keulers
JENN ein Schriftsteller wie Stefan Zweig von seiner hohen Kanzel herab
seiner Lesergemeinde durch ein Stichwort wie das obige den Grund¬
akkord einer Literaturrichtung angibt, so ist das immer ein Ereignis.
* # Begegnet man der Kritik auch allenthalben mit einer gewissen Skepsis
an dem Geständnis des schaffenden Künstlers kann man nicht vorbeigehen.
Man wird vor solcher Ehrlichkeit vielmehr den Hut ziehen und sich vielleicht zu
einer ehrlichen Gewissenserforschung sammeln.
Stefan Zweig hat zwar höchstwahrscheinlich nicht daran gedacht, mit „Verwir¬
rung der Gefühle“ — der Titel, unter dem er seine neuesten Novellen veröffent¬
licht — eine bestimmte Richtung der jüngsten Novellenliteratur zu kennzeichnen.
Erhat vielleicht nicht einmal beabsichtigt, einen Wesenszug seiner zeitgenössischen
Epiker mit diesem Stichwort festzulegen, sondern er hat einfach intuitiv die Dia¬
gnose über den gegenwärtigen Zustand der menschlichen Gefühlsskala gestellt, die
bis in ihr feinstes Vibrieren vor ihm wie vor keinem anderen offenliegt. Ihn lockt
„Verwegene Lust des schöpferischen Spiels in das dornendichte Gestrüpp des
Herzens und die Wirrnis des Gefühls“.
„Nur dort, nur dort in tödlicher Verstrickung,
Ich fühl's, sind unserer Zweinzit wir entrafft.
Wach wehren wir uns gegen jede Schickung
Und fürchten feig den Sturz zur Leidenschaft.“
Mit ritterlichem Mut bricht der Dichter in einer Badegesellschaft in Nizza eine
Lanze für eine Frau, die nach zweistündiger Bekanntschaft mit einem jungen Ele¬
gant ihren behäbigen, provinzlerischen Gatten und ihre beiden Kinder verläßt.
Vor dem Ansturm des entrüsteten konventionellen Anstandes beharrt er mit einer
selbstverständlichen, fast eigensinnigen Sicherheit in der Ansicht, daß „eine Frau
in manchen Stunden ihres Lebens jenseits ihres Willens und Wissens geheimnis¬
vollen Mächten ausgeliefert sei“. Die Wirkung dieses Manneswortes läßt natürlich
nicht auf sich warten. Schon nach einigen Tagen wird er von der würdigsten der
Damen eingeladen, ihre Generalbeichte — „Vierundzwanzig Stunden aus dem
Leben einer Frau“ — entgegenzunehmen: eine Monte-Carlo-Geschichte mit allem,
was dazu gehört, Spieltisch, blasse Menschen mit zuckenden Nasenflügeln, Ku¬
geln, in denen Schicksale rollen, nächtens ein menschliches Wrack auf einsamer
Bank, eine Frau, die sich an den jungen Menschen klammert, um ihn mit ihrem
Gelde — zu retten natürlich, wozu sonst! — und die zusammenbricht, nicht, weil
er seinen Schwur, vom Spiel zu lassen, nicht hält, sondern weil er sie nicht be¬
gehrt: Enttäuschter Heroismus des Geschlechts.
„Untergang eines Herzens“ die zweite Novelle, ist wie ein einziger Schrei aus der
Brust eines biederen, vielleicht zu bürgerlichen Mannes, der mit Fleiß und Glück
seiner einzigen Tochter den Weg in die Gesellschaft geebnet hat und nun zusehen
muß, wie sich diese Tochter, die er wie seinen Augapfel gehütet, drei Lebemännern
in die Arme wirft. Sonderbar, daß man für diesen Mann, der sich einen Knoten¬
stock kauft, aber nicht den Mut aufbringt, die unsaubeie Gesellschaft ausein¬
anderzutreiben, und gebrochenen Herzens stirbt, nur ein Bedauern aufbringt, an¬
statt ihn wegen seiner Schwäche und Feigheit zu verachten und das Verhalten
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