I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 21

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31. Fraeulein Else


Monologistin gestattet. Wohl erfahren wir eindringlich das
zanze „Milieu" und Personal: Tante, Vetter, Freundin,
Gott, freiwillig würde sie
Hotel, Berg, Nacht, Musik und den furchtbacen Feind ihrer
den schönen Römer. Aler
Seele. Aber alles das ist nur die Spiegelung von Fräulein
ie wird es nicht tun. Und
Elses Herz, Gehirn und Auge. Wie die Expressionisten —
llen Menschen. —— Nackt
eigenwilliger Anarchie gegen Natur und Gesetz — sich die Men¬
anna, steigt sie ins Hotel¬
schen ihrer Umwelt nur noch als Reflexe und Gespenster ihres
ügel stehen, den eine Künst¬
Ichs zurechtschufen sodaß so manches Drama nur noch als ein
al sprüht poetische Wehmut
Monolog des Dichters gelten durfte, der seine komplizierte
elt sie. Sie fällt, verwirrt
Seele mit verteilten Rollen sprechen ließ — so macht Schnitzler
Skandal und die Tat — sie
ein Fräulein Else zur „Expressionistin“. Für sie ist keine
3 Zimmer. Sie greift nach
Welt gültig als die Welt ihrer Seele. Es geschieht wohl
vieles außerhalb ihres Machtbereichs; ja, sie ist untätig, mehr
he: Impressionen zerflattert
Opfer als Helv. Jedoch sie leistet sich das Größte, was einem
ht einen Augenblick erzählt.
Menschen ihrer schwachen Vitalität erreichbar ist: ein eige¬
eKontinuität. Es ist
nes, ein selbstgeformtes Schicksal. Sie akzeptiert von der
nicht da wäre; wo ein an¬
Schicksalsmasse nur das ihrer Seele Bekömmliche, das ihrer
r können nicht einen Augen¬
Kraft zu Bezwingende. Mit zehn Tabletten Veronal löst sie
ohne unseren Blutschlag zu
das Chaos ihrer Welt in Harmonie auf. Von innen her gab
st unsere Zeit. Form, Stoff
es keinen anderen Weg für sie — und den Dichter.
theit. Mit welchen Mitteln
Indem Schnitzler die epische Distanz äußerlich preisgab,
tellte er sich mit unverrückbarem Beobachtungswillen in die
Form wird hier bereits ganz
Welt dieses jungen Mädchens Folgt ihren sprunghaften Asso¬
ganze Erzählung auf 135
ziationen bis ins Unlogische. Spricht ihre Sprache von der
des Fräulein Else darstellt.
ersten geringfügigen Plauderei bis zu den letzten Anrufen von
beträchtliche Personen ihrer
Freunden und Verwandten, die schließlich in gebrochenen Sil¬
und ihr Gegenspieler, Herr
ben des Namens Else die letzte Regung des Bewußtseins in
schicksalsträchtige Sätze in
der Sterbenden anklingen lassen. Der Dichter stirbt mit ihr.
all diese Außenstimmen wir¬
C
Er stirbt wirtich in ihr. Sein Ich aber bleibt außerhalb. Er
nFräulein Elses und bilden
ist kein Expressionist, der sich in seinen eigenen Phantomen ver¬
punktisches Geflecht, einen
liert. Er ist objektiver Gestalter — unverrückbar in dem archi¬
Gedankenfäden sich immer
medischen Punkt, von dem aus er ein jeweiliges Schicksal be¬
nlösbar bis zur Verrücktheit
wegen will.
dem Tode seiner tragischen
Die schriftstellerische Technik dieser Selbstentäußerung
und daran erkennt man im späten Schnitzler auch die Epoche
nsequent durchzuführen, be¬
aus der er stammt — ist naturalistisch. Die Zeit ist in ihrer
sch formalen Absicht: Mono¬
Dauer fast nicht mehr symbolisch genommen, sondern die
der Unverrückbarkei
Reden und Gedanken Elses entsprechen ungefähr der wirk¬
Zentrum des außerper,on¬
lichen Zeitdauer ihrer Wirrsal. Daher auch die vielen Wieder¬
Welt. Schnitzler zeigt sein
olungen und Variationen gleicher Gedanken und Gedanken¬
igen Badelebens eines süd¬
prünge, die aber ihre psychologische Rechtfertigung finden.
lichkeit — und ein geringerer
Der Seelenarzt und Psychanalytiker erweist seine Kenntnisse
neben der Hauptperson auch
und sein Studium am Menschen. In kurzatmigen Sätzen ver¬
es Milieu mit einem bun u
bindet der Beobachter die scheinbar widersprechendsten Ueber¬
ster des Dialogs mit Leichtig¬
legungen im Trubel des Gehirns. Mitten im Unglück etwa
rsetzt hätte. Aber Schnitzler
denkt sie an die Wahl der Abendtoilette. Zur Begründung des
des Dramatikers durch die
fabilen Zustands wird die Monatskrankheit Fräulein Elses
Melodie. Keine Realitäten
mit herangezogen. Die weiche Stimmung, die Else ihre letzten
en Bewußtseinzirkels seiner
bürgerlichen Hemmungen vor dem Mantelfall überwinden
läßt, wird mit Musik geradezu bewiesen: Schnitzler setzt
mitten in den Text der Buchstaben die Notenzeichen bestimmter
Gefühlsstellen aus dem Schumannschen Carneval. Aber der
Psychologe ist ein Künstler; und daher ist sein naturalistischer
Apparat nur Hilfsmittel, um die Form zu beleben. Die
alsche Gleichung „Kunst sei Natur“ wird gar nicht zum
Problem. Ein Künstler vom Formsinn Schnitzlers wird nie
dem Stoff erliegen.
Leicht fällt uns hier jenes andere berühmte „Fräulein“
unserer neueren Literatur ein: Strindbergs „Fräu¬
lein Julie“ — die vielleicht den Titel Schnitzlers klanglich
anregte. Auch hier wird in knappsten Zügen, bewunderns¬
Ist es bei Else die Keuschheit der Seele, so ist es hier die
Sinnlichkeit, die Julie mit dem Diener Jean zu Fall bringt.
Bei beiden wird auch die „Ehre“ zum tragischen Faktor. Aber
der immer subjektive Dichter Strindberg springt nicht
völlig in das Weltbetrachtungs=Zentrum seiner Heldin hinüber,
Er kann sich nie entäußern. Er wird selbst in diesem frühen
Drama bereits als Person spürbar. Er braucht zwei formal
gleichwertige Hauptspieler; er schafft einen Dialog mit
vzialen Tendenzen; und nimmt bald Partei bei der Dame der
Oberklasse, bald bei dem Diener Jean aus der Unterklasse.
Julie wird immer edler mit steigendem Unglück; Jean, der
verführte Verführer, immer gemeiner. Persönliche Ideen
drängen sich in die Psyche der Figuren.
Und trotzdem möchte Strindberg (um 1888) reiner
Naturalist sein: „Fräulein Julies trauriges Geschick habe
ich durch eine ganze Reihe Umstände motiviert, die Grund¬
instinkte der Mutter, die unrichtige Erziehung durch den Vater,
das eigene Naturell, des Verlobten Suggestionen auf das
chwache degenerierte Gehirn; ferner und näher: die Fest¬
timmung in der Mittsommernacht, die Abwesenheit des
Vaters, ihre Monatskrankheit,
der aufregende Einfluß
des Tanzes, die Dämmerung der Nacht, der starke aphrodisische
Einfluß der Blumen; und schließlich der Zufall, der die
beiden in einem geheimen Zimmer zusammentreibt ...
Solcher Morivationen ist sich auch Schnitzler bewußt; aber
er bewegt sie nicht vom „Milieu“ her auf den Menschen hin;
ondern bildet das „Milieu“ aus Elses Seele. Und er drängt
ie naturalistischen Motive aus der Sphäre seiner referierenden
Person heraus ganz in die einzige Seele seiner Novellen¬
— jenseits von Gut und Böse
während der
gestalt
—.
Naturalist“ Strindberg selbst in der objektiveren Kunstsorm
des Dramas noch als wertende und mit=mimende Person ge¬