31.
Fraeulein
Else
box 5/1
Dr. Max Goldschmiet
Büro für Zeitungsausschnitte
BERLIN N 4
Telefon: Norden 3051
Frauhfun
8.Feh
Ahiaen
Vergleichungen.
Von Bernhard Diebold.
Schnitzler: „Fräulein Else“. Strindberg: „Fräu¬
lein Julie“. Spitteler: „Conrad der Leutnant“. Stern¬
heim: „Gauguin und van Gogh“.
Mit „Fräulein Else“ (Verlag Paul Zsolnay, Berlin,
Wien, Leipzig) hat Arthur Schnitzler eine Novelle geschaf¬
fen, die an Kontinuität der Handlung, an Einheitlichkeit der
Form und an Unverrückbarkeit des dichterischen Blickpunkts
wohl in der ganzen Literatur nicht ihresgleichen hat. Der
Referent ist sich des phrasenhaften Tonfalls dieses Satzes voll
bewußt und er bemüht sich daher um den Nachweis: daß seine
Worte nicht als Lobpreisungen, sondern als Feststellung und
Tharakterisierung einer schlechthin bedeutenden literarischen
Tatsache aufzufassen sind.
Folgendes geschieht in „Fräulein Else“. Sie hat das Un¬
glück, bereits mit neunzehn Jahren den Trug der schönen Welt
tief zu durchschauen. Sie kennt ihre Eltern besser als die Eltern
sie. Sie erkennt die falsche Freundin, die Gier der Geschäfts¬
leute, den Leichtsinn des Bruders, die Harmlosigkeit der Lieb¬
haber. Sie ist aus guter Familie; aber die Familie steht vor
dem Bankerott. Sie ist schön; aber von den drei paar Seiden¬
strümpfen ist eines schon geflickt. Ohne jede Romantik sieht sie
ihre Lage — die nach außen hin noch respektabel aussieht.
Denn sie sitzt in einem Hotel in südlicher Gegend. Die reiche
Tante hat sie eingeladen. Diese Lage aber wird plötzlich Be¬
wegung. Ein Telegramm der Mutter zeigt ihr die drohende
Verhaftung des Vaters wegen betrügerischer Geschäfte an.
Else soll sofort den reichen Kunsthändler Dorsday um einen
Kredit von 30000 Gulden — das nächste Telegramm schreibt
50000 Gulden — bitten. Sofort. Sie überlegt alle Mög¬
lichkeiten dieses Bittgesuches, ohne sie vor sich selber wahr
haben zu wollen. Herr von Dorsday hört lächelnd von der Not
seines Geschäftsfreundes. Gewiß: er wird die Summe schicken
Aber jede Ware hat ihren Preis. Fräulein Else ist der Preis.
Er will nicht das Letzte — der kluge Kenner sieht es Elses
Augen ab, daß er das Letzte nie erhielte. Aber eines will er:
er will sie nackt sehen; nur eine Viertelstunde lang; sei's auf
der Waldwiese; sei's auf Zimmer 64, wo er schläft. Er will
nicht drängen. Else erhält ein paar Stunden Zeit zur Ueber¬
legung —
Da rest ein dämonisches Karussell von Ja und
Nein, von Möglich und Unmöglich durch das arme Ge
hirn. Sie schüttet zehn Tahletten Veronal ins Wasserglas,
Für alle Fälle. Der Vater wird sich töten oder sie wiro sich
chänden. Sie ist Jungfrau. Ach Gott, freiwillig würde sie
sich geben an Vetter Paul oder an den schönen Römer. Aber
an Dorsday' und für Geld? Nein, sie wird es nicht tun. Und
doch: sie wird es tun: aber vor allen Menschen.
Nackt
unter dem Mantel, wie Monna Vanna, steigt sie ins Hotel¬
Bestibül. Sie sieht Dorsday am Flügel stehen, den eine Künst¬
lerin meistert. Schumanns Carneval sprüht poetische Wehmut
in die schummerige Luft. Es wirbelt sie. Sie fällt, verwirrt
sich, der Mantel öffnet sich. Der Skandal und die Tat — sie
ind vollbracht. Man trägt sie aufs Zimmer. Sie greift nach
dem Veronal.
Diese Vorgänge huschen in rasche: Impressionen zerflattert
über die Seiten. Die Zeit ist nicht einen Augenblick erzählt.
Sie ist immer erleba. Eine einzige Kontinuität. Es ist
ein Intervall, in dem die Heldin nicht da wäre; wo ein an¬
derer die Zeit für sie einnähme. Wir können nicht einen Augen¬
blick mit der Lektüre innehalten, ohne unseren Blutschlag zu
stören. Die Zeit Fräulein Elses ist unsere Zeit. Form, Stoff
und Wir werden eine magische Einheit. Mit welchen Mitteln
vermochte dies der Dichter?
Die Einheitlichkeit der Form wird hier bereits ganz
äußerlich verkürzt, indem diese ganze Erzählung auf 135
Seiten einen einzigen Monolog des Fräulein Else darstellt
Es
reden ihr zwar ein paar unbeträchtliche Personen
ihrer
Umgebung gelegentlich dazwischen und ihr Gegenspieler, Herr
v. Dorsday, hat sogar einige sehr schicksalsträchtige Sätze in
direkter Rede vorzutragen. Aber all diese Außenstimmen wir¬
ken nur als Reflexe im Bewußtsein Fräulein Elses und bilden
mit der Hauptstimme ein kontrapunktisches Geflecht, einen
psychanalytischen Komplex, dessen Gedankenfäden sich immer
enger verwirren und verknoten: unlösbar bis zur Verrücktheit
des Gehirns und erst gelöst mit dem Tode seiner tragischen
Inhaberin.
Diese monologische Form konsequent durchzuführen be¬
durste es mehr als der nur ästhetisch formalen Absicht: Mono¬
log zu schreiben. Es bedurfte eben der Unverrückbarkeit
des dichterischen Blickpunkts im Zentrum des außerpersön¬
lichen Systems einer gestalteten Welt. Schnitzler zeigt
ein
Fräulein Else inmitten des farbigen Badelebens eines süd¬
ichen Kurorts. Er hätte die Möglichkeit — und ein geringerer
Könner spürte die Versuchung — neben der Hauptperson auch
noch Milieu zu schildern; und dies Milieu mit einem bunten
Personal zu beleben, das der Meister des Dialogs mit Leichtig¬
keit in schönste Konversation versetzt hätte. Aber Schnitzler
verdrängt die Zwiegesprächigkeit des Dramatikers durch die
Einstimmigkeit einer tragischen Melodie. Keine Realitäten
ind hier außerhalb des seelischen Bewußtseinzirkels seiner
Monologistin gestattet. Wohl erfa
ganze „Milieu" und Personal:
Hotel, Berg, Nacht, Musik und de
Seele. Aber alles das ist nur die
Elses Herz, Gehirn und Auge. Wi
eigenwilliger Anarchie gegen Natur
chen ihrer Umwelt nur noch als Re
Ichs zurechtschufen, sodaß so manche
Monolog des Dichters gelten dur
Seele mit verteilten Rollen sprechen
sein Fräulein Else zur „Expression
Welt gültig als die Welt ihrer
6
vieles außerhalb ihres Machtbereich
Opfer als Held. Jedoch sie leistet si
Menschen ihrer schwachen Vitalität
1es, ein selbstgeformtes Schicksal.
Schicksalsmasse nur das ihrer See
Kraft zu Bezwingende. Mit zehn
das Chaos ihrer Welt in Harmonie
es keinen anderen Weg für sie
Indem Schnitzler die epische A
stellte er sich mit unverrückbarem
Welt dieses jungen Mädchens Folg
ziationen bis ins Unlogische. Spr
ersten geringfügigen Plauderei bis
Freunden und Verwandten, die sch
en des Namens Else die letzte Rel
der Sterbenden anklingen lassen.
Er stirbt wirklich in ihr. Sein Ich
st kein Expressionist, der sich in seine
liert. Er ist objektiver Gestalter
nebischen Punkt, von dem aus er
wegen will.
Die schriftstellerische Technik die
und daran erkennt man im späten
aus der er stammt — ist naturalist
Dauer fast nicht mehr symbolisch
Reden und Gebanken Elses entspr
lichen Zeitdauer ihrer Wirrsal. Dah¬
holungen und Variationen gleicher
prünge, die aher ihre psychologist
Der Seelenarzt und Psychanalytiker
und sein Studium am Menschen. In
indet der Beobachter die scheinbar
legungen im Trubel des Gehirns.
denkt sie an die Wahl der Abendtoil
abilen Zustands wird die Monat##
mit herangezogen. Die weiche Stim
Fraeulein
Else
box 5/1
Dr. Max Goldschmiet
Büro für Zeitungsausschnitte
BERLIN N 4
Telefon: Norden 3051
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8.Feh
Ahiaen
Vergleichungen.
Von Bernhard Diebold.
Schnitzler: „Fräulein Else“. Strindberg: „Fräu¬
lein Julie“. Spitteler: „Conrad der Leutnant“. Stern¬
heim: „Gauguin und van Gogh“.
Mit „Fräulein Else“ (Verlag Paul Zsolnay, Berlin,
Wien, Leipzig) hat Arthur Schnitzler eine Novelle geschaf¬
fen, die an Kontinuität der Handlung, an Einheitlichkeit der
Form und an Unverrückbarkeit des dichterischen Blickpunkts
wohl in der ganzen Literatur nicht ihresgleichen hat. Der
Referent ist sich des phrasenhaften Tonfalls dieses Satzes voll
bewußt und er bemüht sich daher um den Nachweis: daß seine
Worte nicht als Lobpreisungen, sondern als Feststellung und
Tharakterisierung einer schlechthin bedeutenden literarischen
Tatsache aufzufassen sind.
Folgendes geschieht in „Fräulein Else“. Sie hat das Un¬
glück, bereits mit neunzehn Jahren den Trug der schönen Welt
tief zu durchschauen. Sie kennt ihre Eltern besser als die Eltern
sie. Sie erkennt die falsche Freundin, die Gier der Geschäfts¬
leute, den Leichtsinn des Bruders, die Harmlosigkeit der Lieb¬
haber. Sie ist aus guter Familie; aber die Familie steht vor
dem Bankerott. Sie ist schön; aber von den drei paar Seiden¬
strümpfen ist eines schon geflickt. Ohne jede Romantik sieht sie
ihre Lage — die nach außen hin noch respektabel aussieht.
Denn sie sitzt in einem Hotel in südlicher Gegend. Die reiche
Tante hat sie eingeladen. Diese Lage aber wird plötzlich Be¬
wegung. Ein Telegramm der Mutter zeigt ihr die drohende
Verhaftung des Vaters wegen betrügerischer Geschäfte an.
Else soll sofort den reichen Kunsthändler Dorsday um einen
Kredit von 30000 Gulden — das nächste Telegramm schreibt
50000 Gulden — bitten. Sofort. Sie überlegt alle Mög¬
lichkeiten dieses Bittgesuches, ohne sie vor sich selber wahr
haben zu wollen. Herr von Dorsday hört lächelnd von der Not
seines Geschäftsfreundes. Gewiß: er wird die Summe schicken
Aber jede Ware hat ihren Preis. Fräulein Else ist der Preis.
Er will nicht das Letzte — der kluge Kenner sieht es Elses
Augen ab, daß er das Letzte nie erhielte. Aber eines will er:
er will sie nackt sehen; nur eine Viertelstunde lang; sei's auf
der Waldwiese; sei's auf Zimmer 64, wo er schläft. Er will
nicht drängen. Else erhält ein paar Stunden Zeit zur Ueber¬
legung —
Da rest ein dämonisches Karussell von Ja und
Nein, von Möglich und Unmöglich durch das arme Ge
hirn. Sie schüttet zehn Tahletten Veronal ins Wasserglas,
Für alle Fälle. Der Vater wird sich töten oder sie wiro sich
chänden. Sie ist Jungfrau. Ach Gott, freiwillig würde sie
sich geben an Vetter Paul oder an den schönen Römer. Aber
an Dorsday' und für Geld? Nein, sie wird es nicht tun. Und
doch: sie wird es tun: aber vor allen Menschen.
Nackt
unter dem Mantel, wie Monna Vanna, steigt sie ins Hotel¬
Bestibül. Sie sieht Dorsday am Flügel stehen, den eine Künst¬
lerin meistert. Schumanns Carneval sprüht poetische Wehmut
in die schummerige Luft. Es wirbelt sie. Sie fällt, verwirrt
sich, der Mantel öffnet sich. Der Skandal und die Tat — sie
ind vollbracht. Man trägt sie aufs Zimmer. Sie greift nach
dem Veronal.
Diese Vorgänge huschen in rasche: Impressionen zerflattert
über die Seiten. Die Zeit ist nicht einen Augenblick erzählt.
Sie ist immer erleba. Eine einzige Kontinuität. Es ist
ein Intervall, in dem die Heldin nicht da wäre; wo ein an¬
derer die Zeit für sie einnähme. Wir können nicht einen Augen¬
blick mit der Lektüre innehalten, ohne unseren Blutschlag zu
stören. Die Zeit Fräulein Elses ist unsere Zeit. Form, Stoff
und Wir werden eine magische Einheit. Mit welchen Mitteln
vermochte dies der Dichter?
Die Einheitlichkeit der Form wird hier bereits ganz
äußerlich verkürzt, indem diese ganze Erzählung auf 135
Seiten einen einzigen Monolog des Fräulein Else darstellt
Es
reden ihr zwar ein paar unbeträchtliche Personen
ihrer
Umgebung gelegentlich dazwischen und ihr Gegenspieler, Herr
v. Dorsday, hat sogar einige sehr schicksalsträchtige Sätze in
direkter Rede vorzutragen. Aber all diese Außenstimmen wir¬
ken nur als Reflexe im Bewußtsein Fräulein Elses und bilden
mit der Hauptstimme ein kontrapunktisches Geflecht, einen
psychanalytischen Komplex, dessen Gedankenfäden sich immer
enger verwirren und verknoten: unlösbar bis zur Verrücktheit
des Gehirns und erst gelöst mit dem Tode seiner tragischen
Inhaberin.
Diese monologische Form konsequent durchzuführen be¬
durste es mehr als der nur ästhetisch formalen Absicht: Mono¬
log zu schreiben. Es bedurfte eben der Unverrückbarkeit
des dichterischen Blickpunkts im Zentrum des außerpersön¬
lichen Systems einer gestalteten Welt. Schnitzler zeigt
ein
Fräulein Else inmitten des farbigen Badelebens eines süd¬
ichen Kurorts. Er hätte die Möglichkeit — und ein geringerer
Könner spürte die Versuchung — neben der Hauptperson auch
noch Milieu zu schildern; und dies Milieu mit einem bunten
Personal zu beleben, das der Meister des Dialogs mit Leichtig¬
keit in schönste Konversation versetzt hätte. Aber Schnitzler
verdrängt die Zwiegesprächigkeit des Dramatikers durch die
Einstimmigkeit einer tragischen Melodie. Keine Realitäten
ind hier außerhalb des seelischen Bewußtseinzirkels seiner
Monologistin gestattet. Wohl erfa
ganze „Milieu" und Personal:
Hotel, Berg, Nacht, Musik und de
Seele. Aber alles das ist nur die
Elses Herz, Gehirn und Auge. Wi
eigenwilliger Anarchie gegen Natur
chen ihrer Umwelt nur noch als Re
Ichs zurechtschufen, sodaß so manche
Monolog des Dichters gelten dur
Seele mit verteilten Rollen sprechen
sein Fräulein Else zur „Expression
Welt gültig als die Welt ihrer
6
vieles außerhalb ihres Machtbereich
Opfer als Held. Jedoch sie leistet si
Menschen ihrer schwachen Vitalität
1es, ein selbstgeformtes Schicksal.
Schicksalsmasse nur das ihrer See
Kraft zu Bezwingende. Mit zehn
das Chaos ihrer Welt in Harmonie
es keinen anderen Weg für sie
Indem Schnitzler die epische A
stellte er sich mit unverrückbarem
Welt dieses jungen Mädchens Folg
ziationen bis ins Unlogische. Spr
ersten geringfügigen Plauderei bis
Freunden und Verwandten, die sch
en des Namens Else die letzte Rel
der Sterbenden anklingen lassen.
Er stirbt wirklich in ihr. Sein Ich
st kein Expressionist, der sich in seine
liert. Er ist objektiver Gestalter
nebischen Punkt, von dem aus er
wegen will.
Die schriftstellerische Technik die
und daran erkennt man im späten
aus der er stammt — ist naturalist
Dauer fast nicht mehr symbolisch
Reden und Gebanken Elses entspr
lichen Zeitdauer ihrer Wirrsal. Dah¬
holungen und Variationen gleicher
prünge, die aher ihre psychologist
Der Seelenarzt und Psychanalytiker
und sein Studium am Menschen. In
indet der Beobachter die scheinbar
legungen im Trubel des Gehirns.
denkt sie an die Wahl der Abendtoil
abilen Zustands wird die Monat##
mit herangezogen. Die weiche Stim