I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 29

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31. Fraeulein Else


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Arthur Schnitzler: Fräulein Else. Novelle (im Verlage von Paul
Zsolnan, Wien). Das äußere Geschehen ist simpel. Fräulein Eise,
junge Dame aus Wiener Advokatensamilie, weilt auf Kosten ihrer Tante
in einem eleganten Hotel in San Martino. Sie ist schön. jung. reizvoll,
arm. Männer umstreichen sie. Ihr Herz ist still, ihre Sinne verlangen.
Irgendeinen. Der reich ist. Oder ein Filen. Führer oder Verführer.
Einer ist ihr besonders nahe und besonders unangenehm. Ein reicher
Kunsthändler, Vicomte de Dorsday. Ein Expreßbrief der Mutter: der
Papa, von jeher verschuldet und hochstapterisch, hat Mündelgelder ver¬
untreut. 30000 Gulden. Entweder wird bis übermorgen gezahlt, oder
der Papa, hervorragender Advokat, wird verhaftet. Zujammenbruch,
Schande, Skandal drohen. Einer kann nur helfen: Dorsday. Else soll
ihn, der mit der Familie befreundet ist, um die Summe bitten.
Else tuts. Dorsday sagt ja, verlangt aber, daß sie sich ihm nackt
zeige. Sie gerät in einen zerrüttenden Kouflikt. Ein Telegramm der
Mutter: nicht 30 000, sondern 50000 Gulden sind notwendig. Else bricht
zusammen. In pathologischer Verwirrung geht sie nackt, nur mit einem
Mantel bekleidet, in den Speisesaal, bricht vor allen Gästen zusammen.
In einem absonderlichen Geisteszustand, einer Art wacher Bewußtlosig¬
keit, verfolgt sie die Vorgänge um sich. In einem unbewachten Augen¬
blick nimmt sie das schon früher bereiteie Gist.
Wie gesagt: simpel. Nicht neu. Das Keuschheitsopfer. Monng
Vanna, Lady Godiva blicken über die Seiten. Und dennoch das Wun¬
dervollste mit, was der wundervolle Novellist Schnitzler geschaffen hat.
Die Süßigkeit der Dämmerung zwischen Eros und Thanathos, das
immer wiederkehrende Thema des Dichters, ist hier mit einer Zartheit,
einer überzeugenden Schlichtheit, einer erschütternden Klangsarbe be¬
handeit, die unnachahmlich, unerreichbar scheint. Manches in der
Pfychologie des Mädchens erinnert wie der Titel an Fräulein Julie.
Der Frauenarzt Schnitzler hat den Poeten Schnitzler beraten. Und das
ist der große innere Reiz des Büchleins: daß, was im Geschehen karg
ist, in der Motivierung von verschwenderischem Reichtum getragen wird.
Die Technik ist, wie immer, die des ganz großen Könners. Wir
rleben die zuckenden Gedankenreflexe, die Spannungen und Entspan¬
ungen unmittelbar. Das Ganze mutet an wie ein langes Selbst¬
spräch und ist Seelenspiegel ohne jeden Schatten. In dem knappen,
arsamen, oft gesucht einsachen Stil dopvelt erschütternd. Ein großes,
ines Werk, ein ergreifendes Largo santastico.
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Sozialistische Nonatshofte,
Berl in. d. 18, 4, 1925.
Erzählungen Die neue Novelle Arthur
Schnitzlers Fräulein Else
Wien, Faur-ZeMy er¬
zählt von äußerlich wenig bewegten Din¬
gen. Die Pointe der Geschichte ist, daß
ein gut erzogenes junges Mädchen es
nicht über sich gewinnt ihren sehr schö¬
nen Körper zur Rettung des gefährdeten
Glücks ihrer Eltern zu verkaufen. Aber
deshalb eben, weil etwas Alltägliches
außerordentlich erlesen beseelt wird, ge¬
lang dem Dichter wiederum ein vollende¬
tes Werk. Und die Form (die Schnitzler
schon in Leutnant Gustl angewandt hatte):
daß sich das Innere eines Menschen
kinematographisch abrellt, ist nicht
Willkür sondern Erfordernis der Sache.
Schnitzlers pointillierender Stil, der sich
immer vor der allzu explosiven Ent¬
adung hütet und trotzdem zu den ge¬
heimsten Regungen vordringt, hat in die¬
sem Werk noch reinere Reife erlangt.
Schnitzler ist auch satirisch. Allerdings
ganz leise. Er nimmt nie den Mund sehr
voll, er redet nie sehr laut. Um so er¬
schütternder wirkt dann das Ende, dieser
unaufdringliche Selbsttod des Mädchens,
das bis zum letzten Augenblick noch
nicht weiß, daß es ihm Ernst ist, obgleich
es längst in ihm beschlossen ist.
Uber die Schöpfungsdinge und ihre kos¬
mischen Zusammenhänge versteht Adolf
Koelsch, scheinbar als liebenswürdiger
Erzähler, in Wahrheit als tiefbohrend
um Erkenntnis Ringender, Wesentliches
zu sagen. Koelsch, der Chronist der
Mikroben, der Blumen, der Pflanzen und
der Schmetterlinge, sammelte sich zu
einem Weltanschauungsroman, genannt
Der Mann im Mond (Leipzig, Grethlein
& Co.]. Er beginnt in behäbiger, an¬
schaulicher und heiterer Manier, wie
der selige Gottfried Keller, indem er
allerhand schrullige Menschlein vor den
Leser führt. Der See und die Bäume und
die Schifflein und die Landhäuser und
die Mädchen, von denen er erzählt, sind
wohl auch in Zürcher Nachbarschaft be¬
heimatet. Auch darin ist Koelsch ein
Enkel des klassischen Zürichers, daß er
es nicht bei der Idylle beläßt. Der Mann
im Mond, von dem er zu berichten weiß,
möchte als Einsiedler den Süßigkeiten
und den Sanftheiten der Natur nahe¬
kommen. Doch es gelingt ihm nicht voll¬
kommen, weil er auch in seiner para¬
diesischen Stille von Nebenmenschen ge¬
troffen und aufgescheucht wird. Schließ.
lich bleiben ein Mann und eine Frau
ratlos auf dem Weg ihres Daseins stehen,
und der Dichter ist viel zu gütig, als
daß er diese seine Geschöpfe zu einem
lärmenden Untergang verurteilte.