I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 94

31. Fraeulein Else
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Die Bergner liest
(In der Komödie)
Kaum tritt sie ein und setzt sich nieder
Ein schlankes Kind, das Wuschelhaar
Noch ungeberdig, scheint sie wieder
Was jüngst sie als Miß Cheney war.
Und viele stehn zum Hosiannah
Bereit im Voraus und beglückt,
Die diese heilige Johanna
Mit ihrem Zauber hat entrückt.
Doch heute mit Geberden spart sie
Noch mehr als sonst, und alles Licht
Als Seelensorgerin bewahrt sie
Dem Wort, das ihre Seele spricht.
Lieder
Die Bergner liest... Beherrscht auch
Die große Opernsängerin? —
Nimm den Vergleich und trag' ihn wieder,
O Fremdling, nach Banalien hin
Was aus ihr strömt und in uns mündet,
Geheimste Kraft und Melodie.
Was sich mit Vogelsang verkündet
Ist das Genie.
II.
Vor Jahren zeigt ein Arzt, voll Wonne,
Die des Entdeckers Fleiß belohnt,
(Es war ein Doktor der Sorbonne)
Was so in Menschenadern wohnt.
Man sah Plasmodien und Spirillen
Vergrößert hunderttausendfach
Unsichtbar sonst — dem Forscherwillen
Gehorsam, flink und lebenswach.
Im Licht des Kinos offenbarte
Sich eine Welt im Tropfen Blut,
Die fraß und gierte und sich paarte.
Dem Menschen feindlich böse Brut.
Die Bergner liest, und von den Thronen,
Die sonst ein Wall von Stahl versteckt,
Zwingt sie ein Zwergvolk von Dämonen
Ins Licht, das das Geheimnis weckt.
Ein Kind, das Glücksgier groh umgarnte,
Verzweifelt, da es keinen trifft,
Der still es führte, treu es warnte,
Ein junges Mädchen greift zum Gift.
Und sieht sich selbst, ein Stück „Vermischtes“
Schon morgen in der Zeitung stehn.
Ae Murn asiee
70, Sana 1907·
Ein armes Seelchen, schnell verlischt es,
Die sehn's nicht, die vorübergehn.
Ach, Arthur Schnitzler, Lieber, Dichter
Du des verlor'nen Menschenmüh'ns,
Verirkter Seelen gütiger Richter,
Vom Duft des Welkens und Verblüh'ns,
Vom Leben halberloschener Schemen,
Von Unruh=Sehnsucht nach der Ruh'
Und von dem ewigen Abschiednehmen,
Nun traf sich dein Geschöpf mit einer.
Die Stimmen aus den Tiefen hört.
Den nicht ihr Zauber auch betört.
Was unter des Bewußtseins Schwelle
Verbannt, umsargt, begraben schlief,
Strömt mit erschütternd leiser Welle
Aus unterirdischem Gefelse¬
Bedränger, die sonst unsichtbar
In Herz und Hirn des Fräulein Else,
Im Lichtkreis nun die dunkle Schar.
Da stürzen der Gesellschaftslügen
Gehäufte Babeltürme hin.
Ergreifende Erkenntnis fügen
Der Dichter und die Seberin.
III.
Hörst du den Chor der tausend Stimmen
In dieser einzigen vereint,
Siehst du Ophelien langsam schwimmen
Bekränzt, holdselig und beweint.
Erhebt bei jeder leisen Schwingung
Der Saite Phantasmagorie
Ihr Zauberbild mit tausend Schwingen,
Fühlt man: Die Stimme hat nur sie.
Sie selbst ist fern. Die Offenbarung,
Der Hauch aus ihrer Seele weht
Und gibt dem Wunder seine Nahrung
Dann kommt sie zu sich, schweigt und geht.
Julius Ferdinand Wollf