I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 215

31.
Else
Fraeulein
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Ausschnift aus
ätder der
vom
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1. 18, 1636.
Schnitzlers „Fräulein
Die Novelle von Schnitzler verhält sich zu der Bühnen¬
bearbeitung von Ernst Lothar wie eine ausführliche Krank¬
heitsgeschichte zu einem journalistischen Gesellschaftsbericht.
Außer Namen und Personen haben beide nicht viel Gemein¬
sames (bei Lothar stimmen sogar einzelne Personen mit
denen der Novelle nicht ganz überein). Schnitzler zergliedert
aus ein paar vorliegenden, nicht allzu bedeutsamen Be¬
gebenheiten — die Seele eines jungen Mädchens; Lothar
rekonstruiert aus der seelischen Verfassung dieses jungen
Mädchens heraus einen Gesellschaftsskandal. Novelle und
Theaterstück schlagen also ein entgegengesetztes Verfahren ein.
der Dichter ist in diesem Fall Forscher, der Dramatiker Jour¬
nalist. Die Novelle hat ein Arzt geschrieben, das Stück ein
Theaterdirektor.
Schnitzlers „Fräulein Else“ ist eine Seelen=Analyse in
der Form eines Monologes, der nicht gesprochen, sondern nur
gedacht wird. In diesem Monolog spiegelt sich — es ist eine
indirekte Art der künstlerischen Gestaltung — die Amwelt
der Heldin, ein ganz bestimmtes Milien und eine ganz be¬
timmte Zeit. Erst durch das Milien und die Zeit wird die
Eigur restlos verständlich. (Lothar hingegen weicht absichtlich
diesem Milien und der Zeit aus.)
Fräulein Else, Tochter aus gutem Hause, neunzehnjährig,
schön, interessant, verwöhnt, blasiert, unschuldig, besitzt die
ebhafte Intelligenz ihrer intellektuellen Kreise. Ihr seelischer
Konflikt besteht in dem Gegensatz zwischen ihrer Anerfahren¬
heit und ihrem frühreifen Wissen. Sie ist vorurteilslos und
gleichzeitig jugendlich befangen. Sie nennt die Gesellschaft,
der auch sie angehört, ein „Gesindel“. Sie empfindet sich
selbst als eine junge Aristokratin und als eine Bettlerin,
enn der Wohlstand ihrer Familie gründet sich auf den
schwankend-wechselvollen Erwerb ihres Daters als Rechts¬
anwalt. Immer wieder hat er mit Geldschwierigkeiten zu
kämpfen. Eben befindet er sich in einer solchen Verlegenheit,
er hat Mündelgelder unterschlagen und muß bis zu einem
nahen Termin das Geld zustande bringen. (Im Stück hat er
es aus edlen Motiven getan, um einem anderen zu helsen
das Theater fordert gröbere Voraussetzungen.) Um dem
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Ausschnitt aus der
„NEUEN FREIEN PRESSE“

vom. C
2·DEZ.
Im Theater in der Josefstadt beginnt die heute
stattfindende Uraufführung des Schauspieles in sieben Bildern
„Fräulein Else“ nach der gleichnamigen Novelle von Arthur
Schnitzler Bühnenbearbeitung von Ernst Lothar, um
20 Uhr.-Regie: Hans Thimig. Bühnenbilder: Otto Niedermoser¬
Ludwig Haas.
Eise“ als Theaterstück
Daker aus der Verlegenheit zu helfen, soll Fräulein Else, die
von einer Tanke nach einem italienischen Kurort eingeladen
wurde, sich an einen mit der Familie befreundeten Kunst¬
händler wenden, der sich zufällig im selben mondänen Hotel
aufhält. In diesen Kreisen hilft man einander, der Kunst¬
händler war schon einmal dem Dater beigesprungen, äber
mnanchmal ist eine solche Hilfe nicht uneigennützig: der reiche
Kunsthändler stellt diesmal eine Bedingung. Er interessiert sich
für Fräulein Else und er nützt ihre schiefe Sikuation aus:
er will das vornehme Fräulein — reizt es ihn, zu erproben
wie weit ihre Natur mit ihrer Erziehung übereinstimmt?
bloßstellen. Im wörtlichsten Sinne. Die Zumutung empört
sie tief, aber die Situation drängt, sie befindet sich in einer
Zwangslage. Dielerlei Gefühle durchkreuzen ihr Inneres.
Ihr aristokratischer Stolz verlangt Genugtuung, dennoch er¬
füllt sie die Forderung, aber in anderer Weise, als diese
Forderung gestellt ist. Sie stellt sich nicht unter vier Augen,
ondern vor allen Hotelgästen bloß. (Im Stück wieder nur
entre deux hinter der Szene.) Sie ist sich auch des Skan¬
dales bewußt, den sie hervorruft, und sie ist
— ein ungemein
menschlicher Zug in der Dichtung — seige im Grunde ihres
ugendlichen Herzens, deshalb bereitet sie vor der provo¬
anten Tat ein Glas Veronal vor, das sie nachher trinkt.
Im Stück, wegen des dramatischen Ablaufs, nimmt sie das
Gift vorher.) Sie wird, in der Novelle, das Opfer eines
Milieus, das ihre höherstrebende Persönlichkeit auslöscht; im
Stück das eines Schuftes. In dieser Verschiebung des mensch¬
lichen Problems in einen Sensationsfall beruht der wesent¬
liche Unterschied zwischen der Dichtung und dem Drama. Nicht
ohne innere Berechtigung.
Die Aufführung ist auch bemerkenswert durch das Debut
des Schauspielers Kaspar Brandhofer, eines ehemaligen
Tiroler Dorswirtes, der sich als Autodidakt dem Rollen¬
tudium widmete und von Max Reinhardt kürzlich an das
Theater in der Josefstadt engagiert wurde Bei der Schau¬
pielprüfung der Bühnengenossenschaft fiel bereits seine große
darstellerische Begabung auf.