I, Erzählende Schriften 31, Fräulein Else, Seite 244

Wien, Freitag
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Elses Vater ein edler Menschheitsapostel, ein Opfer
seiner unbezwinglichen Nächstenliebe, ein Parsifal des
Barreaus. So wird aus Fräulein Else selbst, einem
hochmütigen, mehr in seinem Stolz und in seiner
Eitelkeit als in seiner Ehre verletzten Luxusgeschöpf.
beinahe eine jungfräuliche Marlitt=Seele. So wird aus
der im Grunde bösartigen Tante Emma eine liebevolle
Tante schlechthin. So wird aus dem vorsichtig seine
vulgäre Gewöhnlichkeit dissimulierenden
Herrn
v. Dorsday ein „verdrängter“ fast tragischer Ro¬
mantiker.
Lothars Schauspiel zeugt von außerordentlicher
Geschicklichkeit und einem bewunderungswürdigen
Flair für den theatralischen Effekt, der zum Schluß auch
das Kitschige nicht verschmäht. Aber man darf
Schnitzlers Novelle eigentlich nicht kennen. Oder man
darf sie wenigstens nicht vor der Ausführung wieder
gelesen haben. Das Publikum freilich war mit dieser
Transformation sehr zufrieden.
Besonders, da Aufführung und Aufmachung des
Ganzen eine „Sensation“ ist, wie sie nur das Josef¬
städter Theater zu bieten vermag. Eine Sensation schon
das Debüt des Herrn Brandhofer als Dorsday
Stupend die souveräne Ueberlegenheit, mit der er,
zum erstenmal auf einer Bühne, sich bewegt. Stupend die
sichere Konsequenz, mit der er die Gestalt durchführt:
ein von verhaltener Wildheit vibrierender Mensch
brutal und zugleich zartfühlend, zynisch und gegen das
eigene Schicksal rebellierend, vom Geld wie von einem
Fluch gezeichnet, von Sehnsucht berauscht und von Enr¬
täuschung verbittert. Großartig der Augenblick, da e
auch bei Fräulein Else die Erfahrung machen muß, daß
jeder von ihm nur dasselbe will: Geld. Großartig
manche in ihrer Lautlosigkeit doppelt intensive Aus¬
brüche. Geringfügige mimische Uebertreibungen, wie
das wiederholte Fletschen der Zähne, fallen angesichts
dieser Gesamtleistung nicht ins Gewicht. Fräulein Else
ist Frau Stradner; sie entfaltet eine blendende
Eleganz und versteht durch eine nervöse Sensibilität zu
interessieren, durch einen Ton von Einfachheit zu er¬
greifen. Den Dr. T. spielt Bassermann, und dieser
herrliche Künstler vermag sogar alles Unwahrscheinliche
zu einem erschütternden Menschenschicksal zu verzaubern.
Hervorragend Frau Woiwode und Frau Skalla.
Das brillante Ensemble wird noch von den Damen
Bassermann, Geßner, Solms, den Herren
Frey und Brebeck ergänzt. Die Regie des Herrn
Hans Thimig überläßt bis ins letzte Detail nichts
dem Zufall, und die von den Herren Niedermoser
und Haas entworfenen Bühnenbilder geben Muster¬
beispiele moderner Hotelkultur.
Es war ein großer Erfolg für den Autor und die
Darsteller. Ernst Lothar kann sich bei Schnitzler be¬
danken. Ob sich auch Schnitzler bei Ernst Lothar be¬
danken würde...
Moriz Scheyer.
Ein Volksstück im Deutschen
Volkstheater.
„In der stillen Seitengasse“ von Andreas Thom.
Wenn die Gegenwart sich breit ausladend und alles
beherrschend auf den Hauptplatz des Lebens setzt,
Latik Brunn
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Neues Wiener Tagblatt
gestiegen ist und mit dem Wiener Team in London
„faschiert“ wird. Dieser Gesell ist mit der Sattlertochter
verbandelt, während der Sattlersohn, der auch vom
väterlichen Gewerbe abschwenkt, mit der Hausherrn¬
tochter „geht“. Der alte Lokomotivführer, eine meister¬
haft durchgearbeitete humorvolle Rolle des viel zu
wenig beschäftigten Hans Homma, hat eigentlich nur
das Amt eines Räsonneurs, und doch macht er das
Rennen und geht als Gewinner ins Ziel.
Das ist, wie gesagt, alles weit mehr Milieu als
Komposition — das Stück ist kaum recht exponiert und
hat namentlich anfangs allerlei szenische „Löcher“
aber diese Milieuschilderung ist glänzend, voll Leben
und Farbigkeit, die daran gemahnt, daß Andreas
Thom auch Maler ist. Er hat hier viel von der Wärme,
die durch seine Romane flutet, er hat als Menschen¬
bildner das herzhaft Zufassende, das man in seiner
Epik schätzt. Nach seiner eigenen Aussage sind ihm ja
die Menschen dieser Komödie von seinem bekanntesten
Roman „Vorlenz und Brigitte“ übriggeblieben. Die
Darstellung hat ihnen unter Heinrich Schnitlers
Führung blutvolles Leben gegeben. Ehmann hatte
eine im
als Sattlermeister seinen großen Abend —
Grundzug schlichte Leistung, die im Freudentaumel köst¬
lich hochgerissen wird. Das ist nicht nur der Sattler¬
meister Ellinger, dem etwas Glückliches widerfährt, das
ist die Gesamtheit des kleinen Mannes, der armen
Teufel, für die das Leben mit einem Male eine Tür
ns Helle, Strahlende aufstößt. In dieser lustigen
Szene haben die Zuschauer feuchte Augen, darin fühlt
man den Herzschlag Andreas Thoms, und um dieser
einen Szene willen sollte man das sonst durchaus nicht
vollkommene Volksstück sehen. Sie löste spontanen,
vehementen Beifall aus.
Und auch Hans Olden als „Profi“ (Fußball¬
professional) soll man sehen, den frech vergnügten Lehr¬
buben Böheims und die hübschen, wienerischen Vor¬
tadtmädeln von Paula Pfluger und Dora
Seifert. Der junge Brix, auch sprachlich noch un¬
zulänglich, fällt aus dem Ensemble. Aber Kyser, der
einmal böhmakelnd kommt, Elsa Föry als saftige
Greißlerin vom Grund, Elisabeth Markus, schon
bürgerlicher, als Frau Meisterin, Lessen als Turf¬
dankbare
kavalier, Skraup, Grieg, Rehberger —
Partien, famose Typen aus der „stillen Seitengasse“.
in der es eigentlich sehr laut her geht, ein Lärm, der
Beifall stürmische Steigerung fand.
im
Andreas Thom mußte sich wiederholt zeigen, und
es war schön zu sehen, wie dieser Mann aus der
„stillen Seitengasse“ des Lebens, in der ja zumeist
auch die Dichter wohnen, wie dieser Währinger Lehrer
und Menschenfreund, beglückt im Rampenlicht stand,
und, über den Bucherfolg hinweg, einmal in den lauten
Erfolg der Bühne blicken durfte.
Helene Tuschak.