hiesigen Gymnasium; Professor der lateinischen Sprache. Er ist ein
kleines, gekrümmtes Männlein mit graumeliertem Spitzbart. Ich
ging mit auf seine Wohnung, wo er mir seine Bibliothek zeigte;
auf einem der Regale standen dicht gedrängt fast hundert Exemplare
von Heinrich Manns Roman.
„Meine Schüler haben mir diese Bücher geschickt. Jährlich
bekomme ich einige Exemplare mit Randbemerkungen und Unter¬
streichungen. Jeder hat etwas neues, einige Sätze oder gar Seiten,
gefunden, die für mich besonders charakteristisch sein sollen. Als ich
das Buch zum ersten Male las, hat mich die Wut gepackt, und ich
warf es in die Ecke. Am nächsten Tag ging ich nervös in die
Schule; ich habe die Gesichter meiner Schüler prüfend gemustert,
um den Täter zu entdecken. Natürlich konnte ich ihn nicht fassen.
Eines abends, kurz nachher, rief jemand hinter mir: Unrat! Da
habe ich beschlossen, mit meinem Direktor zu sprechen und das Buch
in unserer Stadt verbieten zu lassen — doch habe ich mir das bald
anders überlegt. Freilich hörte ich den Namen „Unrat“ an den
Abenden immer häufiger hinter mir herrufen, manchmal erklang
er sogar in der Klasse. Erbittert suchte ich nach den Tätern; als
ich aber in einer schlaflosen Nacht das verhäßte Buch noch einmal
durchlas, entdeckte ich, daß die Aehnlichkeit zwischen
mir und dem Helden immer größer wurde. Und als
ich in blinder Gereiztheit einen meiner Schüler strafen wollte, fiel
mir Unrat ein, sein tyrannisches, rohes, verständnisloses Wesen —
und ich hielt inne. Seit dieser Zeit ist das Buch zu meinem besseren
Gewissen geworden, zu einem Spiegel, der mir meine Fehler er¬
kennen läßt. Ich habe mich bemüht, diese Fehler abzustreifen ..
und das ist mir auch weitgehend gelungen.“
Wir verabschiedeten uns. Und ich dachte bei mir: „Dieser Pro¬
fessor Unrat ist doch ein guter Schüler: Ob nicht auch der „aller¬
höchste Kriegsherr“ in Heinrich Manns „Kopf“ einiges gelernt
hätte, wenn das Buch vor zehn Jahren erschienen wäre?“
Silbermann.
Zu Jacques de Lacretelles gleichnamigem Roman.
[Nachdruck verboten.]
Von
Ernst Lorsy.
Jacques de Lacretelles „Silbermann“ war
einer der größten französischen Romanerfolge der Nach¬
kriegsjahre. Trotz einer guten deutschen Uebersetzung
ist das Buch in Deutschland über einen engen Kreis
nicht hinausgedrungen. Die Geschichte der beiden Sil¬
bermänner, die wir erzählen, ist aber viel zu merk¬
würdig, als daß wir sie unterdrücken wollten. Hier ist
eine Romanfigur unserer Zeit in einem Menschen
unserer Zeit nicht nur lebendig geworden, sondern hat
auch auf das Leben dieses Menschen einen tiefen Ein¬
fluß geübt!
„Silbermann“ von Jacques de Lacretelle — aus dem Kreise
der „Nouvelle Revue Française“ — spielt etwa in den Jahren 1894
bis 1900 während der Dreyfus=Affäre und könnte als das
lyrische Gegenstück zu Anatole Frances brei. „Histoire contem¬
poraine“ bezeichnet werden. Das Problen. Franzose= Jnde ist
meisterhaft auf die tragische Formel einer Kinderfreundschaft zu¬
rückgeführt. Der Verfasser, ein Protestant, erzählt von seiner lei¬
denschaftlichen, durch Auflehnung gestärkten, von Anfang an melan¬
cholisch=trotzig gefärbten Anteilnahme an seinem Klassenkameraden
Silbermann, von seinem tapferen Kampf um diese Freundschaft
gegen eine Klasse von 15jährigen Jungen, gegen seine Eltern, gegen
sich selbst. Silbermann liebt Frankreich, liebt die französische Lite¬
ratur schon mit der Passion eines schöpferischen Kenners und er¬
obert Lehrer und Schüler im Sturme durch die Art, wie er eine
lange Tirade Racines vorliest und analysiert.
einmal
Zündkontakt
Schicksalbedingte Fremdheit, durch
Vorschein,
zum
glücklich überwunden, kommt wieder
vergistet. Silber¬
Herzen
die
die „Affäre“
als
manns Vater. — ein gebildeter Antiquitätenhändler, wird
wegen Hehlerei in Untersuchung gezogen, und der Vater des jugendlichen
Erzählers ist der Untersuchungsrichter! Der Erzähler fleht seinen Vater
an, den Vater des Freundes, an dessen Schuld er nicht glauben kann,
zu retten. Nun ist der Man wirklich unschuldig. Aber der Richter würde
seiner Karriere schaden, wenn er die Untersuchung allzu schnell ab¬
bräche. Der Knabe Silbermann, im Unglück gereift, ein Beobachter und
skeptischer Philosoph, durchschaut die Lage und trennt sich mit einem
wissenden Lächeln vom Freunde, der ihn, unter demütigenden Gewissens¬
qualen — er ist ein schwerblütiger, protesiantischer Seelenprüfer
schließlich doch an seine Familie verraten muß. Im Abschied von dem
Freunde trennt sich Silbermann von seiner heißen und tragischen
Liebe, trennt sich von Frankreich, das ihn als Fremden verstoßen hat.
Er bläst den göttlichen Funken in sich aus, fährt nach Amerika zu
seinen Verwandten; der Literat von seines Genies Gnaden wird
Antiquitätenhändler werden. ——
Dieses Buch hai, 1000 Kilometer östlich von seinem Schauplatz
und Entstehungsort Paris, in das Leben eines Menschen eingegriffen.
Eines Tages ging ein Mann in Budapest an einem Buchladen
vorbei und wurde wie magisch zurückgezogen von einer Bücher¬
*) In der ungarischen Uebersetzung „Professor Rond“, der Spitz¬
name „Ronda“,
∆
Die jalsche Mme. Bovary.
Sie lebt in der Provence in Pertui als Besitzerin eines kleinen
Gasthauses und hat mit dem — bekannten und längst verstorbenen
—
wirklichen Original Flauberts nicht das geringste zu tun.
Nichtsdestoweniger verehrt sie manchmal einem berorzugten
Sommergast die Volksausgabe von des Dichters Romon mit der
originellen Widmung „Souvenir de Ame. Bovarg'.
(Zeichnung von Rudolf Schlichter)
und Treffkraft analysiert, auch seinen Lebenslauf und den
seines Vaters hatte er in allen wesentlichen Wendungen nachgezeich¬
net. Wie war das möglich? Der Budapester Antiquitätenhändler
var niemals in Paris gewesen. Wie also konnte dieser Französe
ihn erraten? So vollständig erraten — bis in die vergeffenen
Regungen seiner Pubertätsjahre, bis in seine Worte und Gesten
hinein?
Mit seiner aufwühlenden Entdeckung und seiner quälenden Frage
rannte der Antiquitätenhändler zur Zeilung, zum Uebersetzer. Man
suchte ihn zu beruhigen; sprach von ewiger, unvermeidlicher Wieder¬
kehr des gleichen Leidenszuges in Judenschicksalen aller Zeiten und
Länder. Silbermann sah das ein. Was er nicht einsehen und
nicht zugeben konnte, war, daß es sich bei solch erstäunlich minu¬
tiöser Uebereinstimmung einer Reihe von Einzelheiten noch
im Zufall handeln könne. Er konnte einfach nicht glauben, daß
der Franzose ihn, Silbermann, nicht irgendwann, irgendwo persön¬
lich gekannt habe: er hätte sonst sein Geheimnis nicht dechiffrieren
können. Niemals, niemals habe er irgendeinem Menschen davon
gesprochen, wie er zu der Mutter seines Freundes gestanden
habe . . . und dieser Franzose sagte es klipp und klar. Auch sein
Gesicht, seine Erscheinung seien in seiner Jugend genau so gewesen,
wie de Lacretelle sie beschreibe; mit alten Lichtbildern könne er es
beweisen. Auf dem Gymnasium habe er in genau derselben Haltung
gegen die kompakte Majorität seiner Mitschüler kämpfen müssen,
wie der Held des Romans. Er habe die ungarischen Klassiker be¬
geistert und überzeugend deklamiert und habe ungarischer Schrift¬
steller werden wollen. Und aus denselben Erwägungen, die den Roman¬
helden in seine resignierte Wahl treiben, sei auch er nicht Schrift¬
teller, sondern Antiquitätenhändler geworden. Daß er damals
richtig gewählt, daran habe er bisweilen gezweifelt, nun aber, da
er sich als Romanfigur erblickt und erkannt, da er seine Motive von
damals, und zwar alle der Reihe nach, durchschaut und zerlegt und
gebilligt gefunden habe, nun bezweifle er nicht mehr, daß es
so habe kommen müssen. De Lacretelle habe ihn mit sich selbst
versöhnt: er helfe ihm nunmehr, sein Schicksal zu tragen.
Nie wird Silbermann, Antiquitätenhändler in Budapest, an
Zufall glauben. Er glaubt an Wiedergeburt und Seelenverwandt¬
schaft.
Dorsday.
Zu Arthur Schnitziers Roman „Fräulein Eise“.
„Dorsday! Sie haben früher auch anders geheißen!“ — sagt
Fräulein Else, Schnitzlers Heldin.
Damals wußte sie noch nicht, daß sie Geld von ihm brauchte,
daß sie für ihn Monna Vanna spielen sollte — damals wußte sie
noch nicht, daß sie darüber sterben würde.
Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“ ist 1924 erschienen. Am
6. Februar 1926 brachte die Bukarester „Gimineaca“ folgende Notiz:
„Direktor Dorsday verhaftet. Im Zusammenhang mit
dem Selbstmord der Tänzerin E. H. wurde heute vormittag der
Kabarettdirektor Dorsday (Drechsler) verhaftet. Nach Aussage
der Kolleginnen hatte Direktor Dorsday sie gezwungen, nach Schluß
der Vorstellung vor einzelnen bevorzugten Gästen nackt aufzutreten.
Aus diesem Grunde kam es zwischen Fräulein H. und ihrem Ver¬
lobten zu einem Streit, der schließlich zu ihrem Selbstmord führte.“
IV.
Drechsler, Fräulein Else, Drechsler hat er früher geheißen!
Erzahler unserer Kunders
den Erdball umkreisen lief
heroischen Gardeoffizier, den
„Sie sind wohl nicht die
ich; doch mein neuer Bekannt
„Ich war es. — Ich war
mal den Roman von Jules
ich verschlang alle die i
Helden — der meinen Na
sal die Richtung. Ich hatt
der Kurier de Zaren zu
hatten das Buch gelesen;
Helden einer solchen Gest
pielten, war ich immer
meine kurzhosige Armee stet
Widerstand meines Vater
machen wollte. Ich wurde
Dann kam der Krieg¬
wirklichten sich: ich bin ein
der Kurier des Zaren gewo
Kriege und während der W
ich mit vielen andern. Für
sondere Bedeutung. Für
Kämpfe, Gefahren, List und
all dies war ihnen ein Aus
Unglück. Ich nahm dies
meiner ursprünglich
hat Jules Berne richtig vo
geschildert.
: „Strogow!“ rief der
e
Jules Berne war in bi
Amerikaner Goldstrom reiste
und auch das eine konnte der
schlecht in seinen hervischen
des Zaren seine Laufbahn al
Lokal beschließen würde.
Zn Emile Zola
Ha
Der eine Souvarine ist
Zola schreibt im „Germinal“:
„Sonvarine war der jüc
Tula. In Sankt=Petersbur
sozialistische Strömung, die
fortgerissen, ihn dazu bewog
Mechanikers, zu erlernen,
kennenzulernen und ihm
Handwerk lebte er jetzt, nach
schlages auf das Leben de¬
Anschlag auszuführen, hatt#
eines Obsthändlers gelebt,
gelegt, Bomben geladen, in
Hause in die Luft zu fliegen
Der andere Souvarine
Weibe geboren. Boris S
Er floh vor der Gewaltherrf
wo er „unter das Volk“ gin
Pariser Kommunisten machten
Zolas Souvarine war kein
„Euer Karl Marx ist
Kräfte wirken lassen will.
wie? Alles ganz offen
erhöhungen? ... Laßt mt
Zündet die Städte an allen
rasieret alles weg, und wel
dieser verfaulten Welt,
stehen.“
Dieser Sonvarine ist Ana
Er lehnt Marx ab und alles
Propaganda der Tat —
die
Und der lebende Son##
Er wurde 1921 von der Pa
an anarchistischen Der
ihm nichts nachweisen, und
einigen Monaten aber schloß
weil er gegen die Lehre vor
sprach und schrieb.
Zola hat seinen Roman
Boris Souvarine war dama
Und heute stimmen sei
und Handlungen mi
überein. Ist das eine Wir
was man gemeinhin „Zufa
Verantwortlscher Redal