WIEN, I., WOLLZEILE 1
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
19
Neues Wicne.
vom:
21. 0Z.
Londoner Theatersensationen.
„Fräulein Else.“ — „Frühling für Henry.“ — „Peer Gynt.“
Die neue Oskar=Straus=Operette.
Von unserem Londoner Korrespondenten Egon M. Salzer.
London, im Dezember.
Lond 3 Theaterleben bleibt trotz der antiausländischen
Kampag
wisser Kreise international. Manchmal schadet es
enn ein Stück von einem Wiener geschrieben, von
gar nich
einem E
nder bearbeitet, einem Amerikaner inszeniert, einer
Franzö
argestellt und von einem der Komponisten, die zwar
n Wien
boren, aber in Berlin ansässig geworden sind,
komponier ist. Den Proben in Manchester nach zu schließen,
wird der nach diesem Rezept von C. B. Cochran präsentierien
Oskar=Straus=Operette „Eine Frau, die weiß, was sie will“
jener Erfolg werden, den ihr die Mitwirkenden heute schon
prophezeien. A. P. Herbert hat das englische Buch verfaßt und
Oliver Messel, einer der jüngsten und zugleich begabtesten Kostüm¬
zeichner Londons, hat die Dekorationen entworfen. Den größten
Erfolg verspricht man sich von Alice Delysia, einer ausgezeichneten
französischen Schauspielerin, die in der Rolle der Masary auf¬
treten wird. „Mother of Pearl“ oder „Box 21“ (der englische
Titel ist noch nicht genau festgesetzt) wird zu Weihnachten in
Manchester starten und Mitte Januar nach London kommen, wo
inzwischen vier andere Bühnen mit neuen Produktionen Cochrans
beschäftigt sein werden. George Kaufmans und Edna Färbers
„Dinner um acht“ wird mit großem Interesse erwartet, um so
mehr, als Cochran eine sensationelle Regie ankündigt, die ein
wenig Abwechslung in die Schablone des alltäglichen Londoner
Theaters bringen soll. Das gleiche gilt für „Mörderbande“ von
George Munro und für die Dramatisierung des berühmten
Buches von Louis Golding „Magnolia Street“ eine Geschichte,
die den Kampf der Gegensätze von Juden und Christen in
einer Gasse schildert und von Edward Knoblock für die Bühne
bearbeitet wurde. Cochran will nicht die Charaktere des Stückes
als Stars hervortreten lassen, sondern die Gasse zum Haupt¬
darsteller stempeln. Außerdem wird Nikita Balieff wieder mit
seiner „Chauve Souris“ einer Einladung Cochrans Folge leisten
und einige Wochen im Cambridge Theater sein neuestes
Repertoire zeigen. Ehe man die Aufzählung von Cochrans
Aufführungen beenden kann, muß man noch die Dramatisierung
des berühmten Buches „Nymph Errant“ erwähnen, jenes
Romans eines modernen jungen Mädchens aus Amerika, das in
allen Ländern Europas Freunde sucht und findet, um schließlich
zu einer Ariadne großen Stils zu werden, die auch irgendwie
dorthin zurückfindet, wo sie als Flirt begonnen hatte.
Das deutsche Mädchen dieses Genres hat- Artur Schnitzler
uns in seinem „Fräulein Else“ vorgestellt. Der Independenk
Theatre Club hat iun die Bühnenversion von Theodore
Komisarjevsky herausgebracht und damit die erste erfolgreiche
Produktion des neuen, vom Zensor unabhängigen Theaters am
Kingsway. Peggy Asheroft hat durch die meisterhafte Darstellung
dieser in der englischen Bearbeitung noch viel umfangreicheren
Rolle den Anspruch auf den Vergleich mit Elisabeth Bergner
erworben. Sie muß unendlich lange Tiraden sprechen, ohne zu
ermüden, muß im Monolog fähig sein, ohne Pathos ein
kritisches Publikum Ewigkeiten lang interessiert zu halten, und
so bildhübsch sein, daß man ihr alles glauben kann. Nach dem
„Reigen“ ist dies die zweite Schnitzler=Aufführung in London in
diesem Jahre, und beidemal war der Dichter vom Zensor ver¬
boten und mußte mit den kleinen Bühnen privater Theaterklubs
vorlieb nehmen. Was nicht ausschließt, daß im nächsten Jahre
box 5/5
31. Fraeulein Else
Neues Wiener Journal
mehrere große Bühnen versuchen werden, eine Reihe seiner
Dramen „offiziell“ aufzuführen, denn auch „Professor Bernardi“
wunde hier nur an Sonntagabenden von der Jewish Drama
League gezeigt.
Ibsens Kunst teilt mit der Schnitzlers ein ähnliches Schicksal.
Würde sich Peter Godfrey nicht um Ibsen kümmern, würde man
nicht viel von seinen Werken hören. J. T. Grein, ein Jugend¬
freund Bernard Shaws, hat Ibsen seinerzeit den Weg zur
englischen Bühne gebahnt. Peter Godfrey will ihn neuerlich
finden und begann den Reigen seiner Ibsen=Aufführungen mit
„Peer Gynt“ im Gatetheater, dem tapfersten Theater Londons,
das es wagt, bewußt gegen den Geschmack des breiten Publikums
zu arbeiten, und trotzdem erfolgreich bleibt. Godfrey spielt auch
die Titelrolle und bringt einen ganz neuen „Peer Gynt“ auf
die Bühne, der zwischen gymnastischen Kunststücken die Gelegen¬
heit wahrnimmt, der Welt seine Meinung so rasch zu sagen, daß
er in knappen zwei Stunden damit fertig wird. Die kleine Bühne
erlaubt keine großen Dekorationskünste und der Regisseur kann
mit den Beleuchtungseffekten aus der einzigen Kulisse nicht
genug Vielfalt herausholen, als zum Verständnis des Szenen¬
vechsels notwendig wäre. Die Musik von Grieg schien Godfrey
zu tonal, um in seine beinahe burleske Aufführung hinein¬
zupassen. Er ließ darum einen jungen Engländer ein Höllen¬
konzert komponieren, das nicht einmal im Tanz der Trolle
angebracht erschien, geschweige denn eine Ahnung von Solveigs
Lied aufdämmern ließ. Aber auch diese Mängel können Godfrey
nicht um das Verdienst bringen, Ibsen wieder dem englischen
Theater neu zu entdecken.
Die zwei großen Lustspielerfolge sind entschieden „Geschäft
mit Amerika“ von Frank und Hirschfeld und „Frühling für
Henry“ von Benn Levy, der es versteht, in den unverfänglichsten
Situationen moralischen Anstoß zu erregen. Diese Kunst ist in
London und New=York Goldes wert. Besonders hier, wo jeder
gute (anzügliche) Witz der gestrengen Zenfur zum Opfer fällt.
Also muß man Witze schreiben, die auch der prüdeste Zensur¬
beamte nicht streichen kann, weil sie zu gut sind, um gestrichen
zu werden. Levy zeichnet da vier enrzückende Karikaturen der
mittleren Jugend unserer Tage, die sich über die Welt so lustig
macht, wie die Welt über sie. Der glückliche Gefühlskrämer ver¬
liebt sich in eine unschuldige kleine Dame, die er wie eine
Göttin anbetet und durch heroische Kasteiungen zu gewinnen
sucht, um sich ihrer würdig zu erweisen. Er gibt erst nach, als
er das Maß der Proben erfüllt glaubt und sich wieder der
Sünde in die Arme wirft, weil die Unschuld ihm zu hoch hängt.
Worauf er erfährt, daß die keusche Jungfrau nichts weniger als
eine kommune Gattenmörderin ist, die ihren untreuen Gemal' so
kaltblütig niedergeschossen hat, wie er sie betrogen hatte. Der
ganz in Geschäftssorgen aufgehende Ehemann, den Benn Levy
zum modernen „zerstreuten Direktor“, im Sinne des bisher
üblichen Professors stempelt, macht dem Liebhaber seiner Frau
einen Riesenskandal, weil er — seine Frau vernachlässigt. Nun
müsse er seine Busineßaffären im Stiche lassen und Gatte
spielen, trotzdem er diese Sorge längst seinem stillen, aber gern
gesehenen Nebenbuhler überlassen glaubte. Solche Schamlosig¬
keiten können unter Umständen die Galerie empören, wie das
bei der Premiere der Fall war; aber wohl doch nur deshalb,
weil die guten Pfeifer und Zischer vergessen hatten, daß man
eine Farce nicht ernst nehmen darf und schon gar nicht eine
von Benn Levy, der im Apollo von den besten Darstellern
Londons, von Ronald Squire, Isobel Jeans, Joan Barry und
Nigel Bruce so prachtvoll interpretiert wird, daß man wirklich
beinahe vergessen könnte, im Theater zu sitzen.
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
19
Neues Wicne.
vom:
21. 0Z.
Londoner Theatersensationen.
„Fräulein Else.“ — „Frühling für Henry.“ — „Peer Gynt.“
Die neue Oskar=Straus=Operette.
Von unserem Londoner Korrespondenten Egon M. Salzer.
London, im Dezember.
Lond 3 Theaterleben bleibt trotz der antiausländischen
Kampag
wisser Kreise international. Manchmal schadet es
enn ein Stück von einem Wiener geschrieben, von
gar nich
einem E
nder bearbeitet, einem Amerikaner inszeniert, einer
Franzö
argestellt und von einem der Komponisten, die zwar
n Wien
boren, aber in Berlin ansässig geworden sind,
komponier ist. Den Proben in Manchester nach zu schließen,
wird der nach diesem Rezept von C. B. Cochran präsentierien
Oskar=Straus=Operette „Eine Frau, die weiß, was sie will“
jener Erfolg werden, den ihr die Mitwirkenden heute schon
prophezeien. A. P. Herbert hat das englische Buch verfaßt und
Oliver Messel, einer der jüngsten und zugleich begabtesten Kostüm¬
zeichner Londons, hat die Dekorationen entworfen. Den größten
Erfolg verspricht man sich von Alice Delysia, einer ausgezeichneten
französischen Schauspielerin, die in der Rolle der Masary auf¬
treten wird. „Mother of Pearl“ oder „Box 21“ (der englische
Titel ist noch nicht genau festgesetzt) wird zu Weihnachten in
Manchester starten und Mitte Januar nach London kommen, wo
inzwischen vier andere Bühnen mit neuen Produktionen Cochrans
beschäftigt sein werden. George Kaufmans und Edna Färbers
„Dinner um acht“ wird mit großem Interesse erwartet, um so
mehr, als Cochran eine sensationelle Regie ankündigt, die ein
wenig Abwechslung in die Schablone des alltäglichen Londoner
Theaters bringen soll. Das gleiche gilt für „Mörderbande“ von
George Munro und für die Dramatisierung des berühmten
Buches von Louis Golding „Magnolia Street“ eine Geschichte,
die den Kampf der Gegensätze von Juden und Christen in
einer Gasse schildert und von Edward Knoblock für die Bühne
bearbeitet wurde. Cochran will nicht die Charaktere des Stückes
als Stars hervortreten lassen, sondern die Gasse zum Haupt¬
darsteller stempeln. Außerdem wird Nikita Balieff wieder mit
seiner „Chauve Souris“ einer Einladung Cochrans Folge leisten
und einige Wochen im Cambridge Theater sein neuestes
Repertoire zeigen. Ehe man die Aufzählung von Cochrans
Aufführungen beenden kann, muß man noch die Dramatisierung
des berühmten Buches „Nymph Errant“ erwähnen, jenes
Romans eines modernen jungen Mädchens aus Amerika, das in
allen Ländern Europas Freunde sucht und findet, um schließlich
zu einer Ariadne großen Stils zu werden, die auch irgendwie
dorthin zurückfindet, wo sie als Flirt begonnen hatte.
Das deutsche Mädchen dieses Genres hat- Artur Schnitzler
uns in seinem „Fräulein Else“ vorgestellt. Der Independenk
Theatre Club hat iun die Bühnenversion von Theodore
Komisarjevsky herausgebracht und damit die erste erfolgreiche
Produktion des neuen, vom Zensor unabhängigen Theaters am
Kingsway. Peggy Asheroft hat durch die meisterhafte Darstellung
dieser in der englischen Bearbeitung noch viel umfangreicheren
Rolle den Anspruch auf den Vergleich mit Elisabeth Bergner
erworben. Sie muß unendlich lange Tiraden sprechen, ohne zu
ermüden, muß im Monolog fähig sein, ohne Pathos ein
kritisches Publikum Ewigkeiten lang interessiert zu halten, und
so bildhübsch sein, daß man ihr alles glauben kann. Nach dem
„Reigen“ ist dies die zweite Schnitzler=Aufführung in London in
diesem Jahre, und beidemal war der Dichter vom Zensor ver¬
boten und mußte mit den kleinen Bühnen privater Theaterklubs
vorlieb nehmen. Was nicht ausschließt, daß im nächsten Jahre
box 5/5
31. Fraeulein Else
Neues Wiener Journal
mehrere große Bühnen versuchen werden, eine Reihe seiner
Dramen „offiziell“ aufzuführen, denn auch „Professor Bernardi“
wunde hier nur an Sonntagabenden von der Jewish Drama
League gezeigt.
Ibsens Kunst teilt mit der Schnitzlers ein ähnliches Schicksal.
Würde sich Peter Godfrey nicht um Ibsen kümmern, würde man
nicht viel von seinen Werken hören. J. T. Grein, ein Jugend¬
freund Bernard Shaws, hat Ibsen seinerzeit den Weg zur
englischen Bühne gebahnt. Peter Godfrey will ihn neuerlich
finden und begann den Reigen seiner Ibsen=Aufführungen mit
„Peer Gynt“ im Gatetheater, dem tapfersten Theater Londons,
das es wagt, bewußt gegen den Geschmack des breiten Publikums
zu arbeiten, und trotzdem erfolgreich bleibt. Godfrey spielt auch
die Titelrolle und bringt einen ganz neuen „Peer Gynt“ auf
die Bühne, der zwischen gymnastischen Kunststücken die Gelegen¬
heit wahrnimmt, der Welt seine Meinung so rasch zu sagen, daß
er in knappen zwei Stunden damit fertig wird. Die kleine Bühne
erlaubt keine großen Dekorationskünste und der Regisseur kann
mit den Beleuchtungseffekten aus der einzigen Kulisse nicht
genug Vielfalt herausholen, als zum Verständnis des Szenen¬
vechsels notwendig wäre. Die Musik von Grieg schien Godfrey
zu tonal, um in seine beinahe burleske Aufführung hinein¬
zupassen. Er ließ darum einen jungen Engländer ein Höllen¬
konzert komponieren, das nicht einmal im Tanz der Trolle
angebracht erschien, geschweige denn eine Ahnung von Solveigs
Lied aufdämmern ließ. Aber auch diese Mängel können Godfrey
nicht um das Verdienst bringen, Ibsen wieder dem englischen
Theater neu zu entdecken.
Die zwei großen Lustspielerfolge sind entschieden „Geschäft
mit Amerika“ von Frank und Hirschfeld und „Frühling für
Henry“ von Benn Levy, der es versteht, in den unverfänglichsten
Situationen moralischen Anstoß zu erregen. Diese Kunst ist in
London und New=York Goldes wert. Besonders hier, wo jeder
gute (anzügliche) Witz der gestrengen Zenfur zum Opfer fällt.
Also muß man Witze schreiben, die auch der prüdeste Zensur¬
beamte nicht streichen kann, weil sie zu gut sind, um gestrichen
zu werden. Levy zeichnet da vier enrzückende Karikaturen der
mittleren Jugend unserer Tage, die sich über die Welt so lustig
macht, wie die Welt über sie. Der glückliche Gefühlskrämer ver¬
liebt sich in eine unschuldige kleine Dame, die er wie eine
Göttin anbetet und durch heroische Kasteiungen zu gewinnen
sucht, um sich ihrer würdig zu erweisen. Er gibt erst nach, als
er das Maß der Proben erfüllt glaubt und sich wieder der
Sünde in die Arme wirft, weil die Unschuld ihm zu hoch hängt.
Worauf er erfährt, daß die keusche Jungfrau nichts weniger als
eine kommune Gattenmörderin ist, die ihren untreuen Gemal' so
kaltblütig niedergeschossen hat, wie er sie betrogen hatte. Der
ganz in Geschäftssorgen aufgehende Ehemann, den Benn Levy
zum modernen „zerstreuten Direktor“, im Sinne des bisher
üblichen Professors stempelt, macht dem Liebhaber seiner Frau
einen Riesenskandal, weil er — seine Frau vernachlässigt. Nun
müsse er seine Busineßaffären im Stiche lassen und Gatte
spielen, trotzdem er diese Sorge längst seinem stillen, aber gern
gesehenen Nebenbuhler überlassen glaubte. Solche Schamlosig¬
keiten können unter Umständen die Galerie empören, wie das
bei der Premiere der Fall war; aber wohl doch nur deshalb,
weil die guten Pfeifer und Zischer vergessen hatten, daß man
eine Farce nicht ernst nehmen darf und schon gar nicht eine
von Benn Levy, der im Apollo von den besten Darstellern
Londons, von Ronald Squire, Isobel Jeans, Joan Barry und
Nigel Bruce so prachtvoll interpretiert wird, daß man wirklich
beinahe vergessen könnte, im Theater zu sitzen.