I, Erzählende Schriften 30, Casanovas Heimfahrt, Seite 12

30. Casanovas Heinfahr
Lit box 4/10
a
Arcber Schnitzler und Calanova.
Von
Tdand
Arthur Kloesser.
Jeder Deutsche, der sich heute an die Oeffentlichkeit begibt, wird"#X
sich schon seiner Sicherheit wegen vorher peinlichst untersuchen
müssen, inwieweit er sich während der vier Kriegsjahre kompro¬
mittiert haben könnte. Hat er kein Kriegslied geschrieben, so wird er
von den Alldeutschen verurteilt, die jetzt allerdings nicht vie zu
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sagen haben. Hat er einer mit Kling und Klang ausrückenden
Truppe unversehens ein Hurra nachgerufen, so wird er von den Pa¬
zisisten verdammt, die jetzt ungemein kriegerisch geworden sind. Der
Fall Schnitzler liegt im unkloren oder er ist zum mindesten uner¬
giebig; denn die Aktivisten von beiden Seiten werden ihm höchstens
Passinität oder Indifferenz vorwerfen können. Schnitzler hat im
Kriege sein Friedenshandwerk unbekümmert, oder sagen wir, schein¬
bar unbekümmert fortgesetzt: er schrieb Komödien und Novellen,
so gut er es verstand. Sein Fall oder Nichtfall erinnert mich an
den des armen Geigers, der während der großen französischen Revo¬
lution vor das Tribunal geschleppt wurde. — Was hast du bis jetzt
getrieben? — Ich habe Geige gespielt. — Und was wirst du ferner
treihen? — Ich werde Geige spielen. — Man hielt den Mann für
unheilbar, aber auch für unschädlich genug, um ihn nicht unter die
Guilloline zu stecken. Der wegen mangelnder bürgerlicher Ge¬
sinnung Verdächtige, wegen geistiger Unzulänglichkeit Freige
sprochene eilte nach Hause, nahm die Geige aus dem Futteral,
streichelte sie zärtlich und spielte barauf so schön wie noch nie,
spielte darauf eine Phantasie, die weder mit Todesangst oder
Guillotine noch mit Königtum oder Jakobinertum irgendetwas zu
tun hatte. So wenigstens denke ich mir den Ausgang der Ge¬
schichte, die ich offen gestanden vom alten Plötz habe; aber dem kam
es wie immer wohl nur darauf an, uns eine besondere franzö¬
sische Konstruktion durch einige Wiederholungen ins Gedächtnis zu
hämmern.
Arthur Schnitzler hat eine Novelle geschrichen und gar eine, die
den genußgierigsten aller historischen Abenteurer zum Helden ge¬
nommen hat: „Casanovas Heimfahrt" (S. Fischer).
Schnitzler sch dem erfolgreichsten Frauenjäger, der es wahr¬
haftig nicht n g hatte, noch ein letztes Abenteuer vor der Heim¬
kehr in seine Vaterstadt; es ist also ein Opfer, es muß ein Dank¬
opfer gewesen sein für Zerstreuung in schweren Zeiten, die ihm 1 erreich
Casanovas Erinnerungen geliefert haben. Dank eines deutschen
Analy
Dichters für pika#te und gar welsche Lektürel Daraus ziehe ich
um
seine
den Cchluß, daß Schnitzler, der nicht Pazifist ist — dazu ist er
es die
nicht kriegerisch genug — sondern nur ein Mann des Friedens
und der Menschlichkeit, an diesen vier Jahren tief gelitten haben
gleich
muß. Und wenn der Dichter vor ein Revolutionstribunal ge¬
schafter
stellt werden sollte, so bitte ich, obgleich ich kein Instrument spiele.
seelisch
können
um die Ehre, neben ihm verhärt zu werden. Wenn die Sorge
um das Schicksal Deutschlands mir die Fähigkeit zur Arbeit wie
Wer
zur Muße nahm, fand ich drei Männer, die sich immer als stark
wird i
genug erwiesen, um mich eine Stunde abzulenken und zu sich zu
ungemy
zwingen: Kant, Goethe und Casanova. Dem Philosophen gelang
wie de
es durch seine kategorische Nötigung zum dauernden Mitrechnen
Mädch
an seinem Denkprozeß, dem Dichter, der in Jahrtausenden dachte.
kluge #
durch seinen Trost an uns Verzweifelnde über das nächste Jahr¬
Oelieb#
hundert hinweg, dem Abenteurer und Lebemann durch seine un¬
und sch
verstellte und unbekümmerbare Tatsächlichkeit. Der dankbare
der er
Schnitzler hat ihm eine sein erfundene Novelle von hoher stilistischer
diegen
Einsicht gewidmet, ein seines Stück deutsches Prosa, eine höchst ge¬
nie zu
diegene und haltbare Vermehrung unserer immer noch nicht sehr
Und d#
reichen Erzählungskunst. Wer kann heute überhaupt noch erzählen?
eigener
Die aristokratische Kunstform der Novelle war durch die natura¬
wird d
einen
listische Verpflichtung zur Beobachtung platt getreten, war durch die
impressionistische zur Interpunktion des Augenblicks aufgelöst wor¬
der glä
den. Der Expressionismus, der gern in exotischen und blut¬
noch ei
rünstigen Visionen ausschweift, stellte sie nur scheinbar wieder her,
Casano
weil er lieber in allen hohen Rauscharten schnaufte und raste, statt
Mensch
zu erzählen, was dem Deutschen immer am schwersten fällt.
nicht ui
Künstle
„In seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahre, als Cosanova längst
ist, auf
nicht mehr von der Abenteuerlust der Jugend, sondern von der
mit gec
Ruhelosigkeit nahenden Alters durch die Welt gejagt wurde, fühlte
So erw
er in seiner Seele das Heimweh nach seiner Vaterstadt Venedig
Unabsich
so heftig anwachsen, daß er sie, gleich einem Vogel, der aus
dämmen
luftigen Höhen zum Sterben allmählich noch abwärts steigt, in
melanch
eng und immer enger werdenden Kreisen zu umziehen begann.“
Das ist erzählt, das ist guter Ton, das ist (Haltung, das ist aus¬
reichende und gesunde Atemverteilung. Und vor allem, das ist
weder Kleist noch Tieck nach Cervantes; denn wenn es auch gewisse
biegsam Stilkünstler mit täuschend ähnlichen Nachahmungen ver¬
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sucht haben, die chronikartige ganz auf Handlung und Tatsache 75. des
gestellte Nüchternheit der alten Meister können wir doch nicht mehr 1 Vietor¬