I, Erzählende Schriften 30, Casanovas Heimfahrt, Seite 49

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Casanovas Heimfahrt
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Rundschau.
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aktuell gemeint und ist heute ferne Ver¬
erregten Blutes getrieben wird in rastlosem
gangenheit; aber die Menschen sind doch die
Begehren, während der Geist bereits weh¬
gleichen geblieben und die nicht allzu tiefen,
mütig resigniert.
aber immerhin vorhandenen Konflikte sichern
Dieses ruhlose Menschenherz pocht auch
dem Buche des bibliophilen Plauderers
im Roman eines Dichters, der sich nach
dauerndes Interesse.
novellistischer Kleinarbeit wieder zu einem
Wie sehr aber auch einem großen Dich¬
großen Wurf gesammelt hat, in Ernst Decseys
ter ein bestimmter kulturhistorischer Hinter¬
Wiener Roman „Die Stadt am Strom“¬
grund zustatten kommt, beweist Arthur
Gewiß ist in diesem glänzend geschriebenen
Schnitzlers Casanova=Novelle“. Das fein¬
Roman jenes schon sagenhaft gewordene,
gestrichelte Bild des alternden Abenteurers
wohl auch stark überschätzte und operetten¬
hebt sich plastisch von dem glänzenden
haft versüßte alte Wien, die Stadt der Back¬
Hintergrund der tausend erotischen und
hendln und der Heurigen, lebendig — aber
diplomatischen Erlebnisse des historischen
über dieses bereits allzu gründlich ausge¬
Casanova ab: noch einmal drängt sich in
wertete Wien erhebt sich eine unbekannte,
einem virtuos gezeichneten ländlichen Gesell¬
vom Dichter neu entdeckte Stadt: die Stadt
schaftsbilde der ganze einzigartige Lebens¬
großer vormärzlicher Projekte, die Pforte
inhalt Casanovas zusammen. Schnitzler
des Orients, die Metropole am völker= und
baut die dürftige biographische Notiz, daß
länderverbindenden Strom. In den Träumen
der verarmte Casanova als Polizeispion in
eines auch menschlich liebenswert gezeichneten
den Dienst seiner Vaterstadt Venedig getreten
Phantasten, des Dichters Leopold von Sonnen¬
sei, zu einer erschütternden Tragödie aus.
brück, malt sich die kühne Idee, die sein
Auf der Reise nach diesem schmachvollen
kühl rechnender Gegner Dionys von Lieben¬
Ziele, mit mühsam bewahrter Eleganz, aber
sprungkh als wunderschöne, aber unbrauch¬
noch voll des stolzen Bewußtseins, der große
bare handelsgeographische Rhapsodie be¬
Europäer seiner Zeit, der ebenbürtige Gegner
zeichnet, die fernhintreffende Idee, die Wien
Voltaires und der Besieger jeder Frauen¬
mit den Ländern asiatischer Urkulturen, mit
laune zu sein, weilt Casanova einige Tage
den glasmalenden, teppichknüpfenden, email¬
auf dem Gute eines Bekannten aus den
pinselnden, märchensinnenden Völkern ver¬
Tagen seines Glanzes. Wie nun dieser letzte
knüpft. Aber mit einer aus einer Fülle von
innere Halt des ausgehöhlten, vom Alter
Quellen destillierten, poetisch sublimierten
gezeichneten Casanova im Erlebnis mit
Psychoanalyse der altösterreichischen Büro¬
Marcolina zusammenbricht, ist ein Meister¬
kratie und einer vortrefflichen Sachkenntnis
stück Schnitzlerscher Seelenanalyse. Zum
menschlicher Herzenstücke zeigt der Dichter
ersten Male tritt dem großen Erotiker das
das Scheitern dieser Prachtidee, von der
geistig überlegene Weib entgegen, zum ersten
man heute, im zerstückelten Österreich, nicht
Male begegnet der verwöhnte Liebling der
ohne wehmütige Resignation liest. Und diese
Frauen, der auch noch in der Armut vom
Anteilnahme steigert sich beim traurigen
Hauch erotischer Dämonie umwittert ist, das
Schicksal der schönen Rosemarie, Sonnen¬
instinktive Grauen blühender Jugend vor
brücks früh vom Tode gezeichneten Tochter,
dem Alter — es ist das erschütternde My¬
die den kaltblickenden, geld= und frauen¬
sterium der Abdankung, der innerste Zellkern
gierigen Herrn Dionys nicht mag und in
mancher Dramen Wedekinds, das hier
jener unsterblichen Kreisler=Julienliebe den
in spezifisch Schnitzlerscher Ausprägung sich
armen Musiker Indo Isenflamm liebt, der
vollzieht.
in dem kommerziellen Getriebe des merkantil
Wie im Roman von Doktor Gräsler
erwachenden Wien die Welt der Lanner¬
ist es das Problem des an der Wende des
walzer repräsentiert, wie die beiden „Efeu¬
Lebens stehenden Mannes — ein Problem,
leute“ die vergangene theresianische und
das ja auch in Goethes Meisternovelle vom
josefinische Epoche. Vielfältige Fäden laufen
Mann von fünfzig Jahren mitschwingt, ein
durch das nirgends stockende, von der Fabel¬
Problem, das nur aus dem Erlebnisgehalt
fülle fast gesprengte Buch, machtvoll rauscht
des Dichters selbst heraus erfaßt und ge¬
der Strom und hier, in heute sehr unpoetischen,
staltet werden kann. Das Abenteuer gibt
wenig bekannten Bezirken zeigt uns der
die schimmernde Folie, das Wesentliche aber
Dichter ein neues, bisher noch unentdecktes
ist der Angelpunkt der großen, gereiften
Wien, das gesünder, volkstümlicher, sagen
Kunst Arthur Schnitzlers: das menschliche Herz
wir: provinzieller ist als die Welt der
schmerzlich zucken zu sehen, das Herz, das
Heurigenschenken — die Gegenden der Roßau
immer wieder vom glühenden Strom des
und der Brigittenau, wo im Buschwerk der
* Arthur Schnitzler: Casanovas Heimfahrt. S.
Ernst Decsey: Die Stadt am Strom. Berlin,
Fischer. Berlin 1918.
Schuster u. Löffler 1918.