I, Erzählende Schriften 30, Casanovas Heimfahrt, Seite 50


Casanovas Heimfahrt
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Rundschau.
Auen vormärzliche Försterhäuser standen und bändchen vor“. Eine ergreifende Kinder¬
geschichte, ganz aus der fröstelnden Stim¬
im „wilden Prater“ am Brigittatag eine
mung eines Regentages heraus gestaltet:
niederländisch üppige Kirmes tobte. Und von
die kleine Ina, die von niemandem, auch
hier aus zeigt uns Deesey nr) einmal sein
von der leidenschaftlich geliebten Mama
„liebes Wien“: die beiden guten Freundes¬
nicht, in ihrem innersten Wesen verstanden
gesichter Kahlenberg und Leopoldsberg, die
wird — die ganze gesellschaftliche Maschine
Stadt im Silberflor. So hatten sie schon
rollt über das zarte Seelchen hinweg, das
die alten Kaiser, Leopold I. und Karl VI.
endlich zertreten am Wege liegt. Das
gesehen, die hier ihre Lustschlößchen mit ver¬
Martyrium des Kindes aus „besten Kreisen“.
goldeten Vogelbauern und Orangegärten
ist hier scharf beobachtet, schärfer als es der
hatten. Man liest diesen Roman wie einen
jungen Dichterin in der zweiten Novelle
Abschiedsgruß an das unwiederbringlich
„Herbst“ gelingt, Glück und Verzicht einer
versunkene alte Österreich ...
reifen Frau zu schildern. Hier versagt noch
Ein Buch des Abschieds ist auch Anselma
die menschliche Erfahrung; aber die künst¬
Heines Elsäßerroman“. Er schildert, in den
lerische, symbolisch andeutende Darstellung
Julitagen des Jahres 1870 beginnend, eine
zeugt auch hier von einem Talent, über
idyllische Welt, französisch in der äußeren
dessen Entwicklung wir uns freuen können.
Zivilisation, die vom napoleonischen Paris
Ein besonderes Gastrecht genießen bei
kommt, deutsch in ihren Herzensregungen,
uns die nordischen Erzähler, schon seit jeher
ihren Volksliedern, ihrem starrsinnigen Son¬
die Lieblinge des deutschen Lesepublikums.
derlingswesen. Eine bikulturelle Welt wie
Knut Hamsun wird in der neuen Gesamt¬
es einstmals Görz war, in dem sich deutsches
ausgabe“ zum ersten Male in seiner ganzen
und furlanisches Wesen reizvoll mischten.
vielfältigen Erscheinung vor die deutsche
Wir sehen die Bürgerhäuser, überfüllt mit
Offentlichkeit treten. Der erste Band enthält
Urväter Hausrat, die schmalen, hellen Gassen,
die revolutionären Frühwerke: besonders
die Weinberge, auf denen die sümmernde
„Hunger“ wirkt stets aufs neue erschütternd:
Glut eines wundervollen Hochsommers liegt.
wir haben doch das Hungergespenst selbst
Sommer ist auch in den Herzen der beiden
riesengroß in unserer Mitte, und wenn kürz¬
jungen Menschen: des deutschen Studenten
lich der Hungertod eines jungen Wiener
Heinrich Hummel und der schönen Demoiselle
Dichters durch die Blätter ging, so wird der
Balde, des Bürgermeisters von Thurwiller
autobiographische Roman Hamsuns — denn
Töchterchen. Das politische Geschick rollt
nur Selbsterlebtes wird mit dieser un¬
über das Einzelschicksal hinweg, die Dich¬
erhörten Grausamkeit geschildert — noch
terin schildert uns die allmähliche Deutsch¬
durch die Wirklichkeit übertroffen. Freund¬
Lujo Brentanos

werdang des Elsaß.
lichere Eindrücke vermittelt der hübsche Aus¬
„Elsäßer Erinnerungen“ erscheinen uns aller¬
wahlband Hamsunscher Novellen*““ den
dings eine authentischere Quelle und René
Walter von Molo mit feiner Kennerschaft
Schickeles „Hans im Schneckenloch“ greift
zusamigengestellt und eingeleitet hat. Hamsuns
das Doppelkulturproblem in seinem mensch¬
überreiches Wesen tritt uns hier in ingem
lichen und politischen Zwiespalt wesentlich
Nahinen plastisch entgegen. Da ist „Viktoria“,
tiefer auf; aber im Grunde bestand das
diese ganz scheue, keusche Geschichte einer
Symbol, das der alte Ratschreiber von
unerfüllten Liebe, ist „Schwärmen“, ein kurzer
Thurwiller dem deutschen Besucher deutet
Roman voll köstlichen, unterirdischen Humors,
zu Recht: das Palimipfest, auf dem die
voll farbigen Lebens an nordischen Fjorden.
fremde Schrift zweien Jahrhunderte ver¬
Alles Ironische, Scharfe seiner Frühzeit
schwindet und die deutsche Urschrift wieder
wird in diesen Novellen in spielende Ironie
zum Vorschein kommt. Wird sie stark genug
aufgelöst — daneben das wilhe, rücksichtslose
sein sich mit alemannischer Zähigkeit auch
Leben, des Hamsun selbst so tüchtig gerüttelt
heute und in Zukunft zu behaupten? Diese
hat (z. B. in der Novelle „Vagabondage").
bange Frage lesen wir heute in das mit
Die Einleitung Walter v. Molos umreißt in
schöner Objektivität geschriebene Buch der
seiner feelischer Analyse das menschliche und
deutschen. Dichterin hinein.
literarische Bild des Dichters, dieses „Aus¬
Wir reihen an die deutsche Dichterin
ländees des Daseins“, wie er sich selbst
eine junge österreichische Adeptin der Dicht
gegenüber den Tieren in Menschengestalt
kunst au: Helene von Weilen, des heuer si#
* Helene von Wellen: Zwei Novellen. Vertag von
tragisch dahingeschiedenen Literarhistorikers
Franz Malota. Wien 1918.
Alexander von Weilen Tychter, Josef von
** Knut Hamzun. Sämtliche Aierke. 1. Band Hunger,
Weilens Enkelin, legt ein schmales Novellen¬
Mysterien. Albert Langen. München 1918.
** Erzählungen von Knut Hamsun. Ausgewählt und
* Die verborgene Schrift. Roman von „Anseln a
eingeleitet von Watter v. Molo. Albert Langen.ünchen.
Heine. Ullstein 1918.