I, Erzählende Schriften 30, Casanovas Heimfahrt, Seite 54

30. Casanovas Heimfahrt
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Aber aller einfache Effekt ist dieser
Gestalten aussprechen läßt: „Wahr oder
Erzählung fremd. Von vornherein wird
nicht, die Geschichte ist gut erzählt. Das
der europäische Verführer gezeichnet im
ist die Hauptsache. Erzählen, das heißt
Stadium des Verfalls. Ein dem
handfestes Geschehen handfest darbrin¬
Greisen= und Siechtum naher, verarm¬
gen. Wie wenige können es!“ Der
ter, mühsam seinen alten Ruf wahren¬
Satz steht in der Novelle „Die Bock¬
der, heimlich schon dem bittersten Schick¬
reiter“. Sie spielt im 18. Jahrhundert,
sal Erlegener, so betritt Casanova die
im rheinischen Land. Lange hat Friede
Szene, ein Schauspieler, der seine eigene
geherrscht und üppiger Wohlstand, allzu
Vergangenheit spielt, raffiniert, mit
üppiger. Die gesättigte Ruhe gebiert die
Liebenswürdigkeit und Schlauheit den
Lust zum Schabernack, zum nächtlichen
Weltmann von damals mimt, während
Treiben und Abenteuern. Es hat sich
er schon den Pakt unterschrieben hat,
eine geheime Bande gebildet, die Hüh¬
der ihn zum jammervollen Spitzel
ner stiehlt, Mönche schreckt, Unrecht
herabwürdigt. Und in diesem Moment
durch mildes Femgericht fühnt und
flackert noch einmal die Glut in ihm
Hoch und Niedrig Gelegenheit gibt, sich
auf. Ein junges, hochgebildetes Mäd¬
heimlich auszutoben. Aber wie es geht,
chen fesselt ihn. Mit kühner Waghal¬
wo Viele teilnehmen und keine Verant¬
sigkeit nähert er sich ihr wie ein er¬
wortung den Einzelnen trifft, das halb
fahrener Jäger; aber sie unterliegt nicht.
harmlose Treiben geht bald in Plün¬
Erst muß er ihren Geliebten nach
dern, böse Gewalttat und Blutvergießen
allerlei trugvollen und anstrengenden
über. Zwar, die Bockreitergesellschaft
Machenschaften mit Geld erkaufen und
löst sich nun, erschrocken, auf. Aber
ein großes reines Glück zertreten, ehe
ihr Vorbild hat wildere und fessel¬
er sie besitzen kann. Das geschieht, und
losere Elemente gelockt. Räuberbanden
nach diesem grauenvollen Sieg ersticht
terrorisieren bald das ganze Land. Sol¬
er noch im Zweikampf den Betrogenen,
daten werden aufgeboten, der Belage¬
ehe er nach Venedig heimkehrt. Ein
rungszustand wird verkündet. Traurige
ekelerregender Vorgang also, und einer,
Jahre kommen. Die alte Bockreiter¬
der voll von Klippen und Gefahren für
gesellschaft bildet sich, gleichsam zum
den Erzähler ist. Aber es ist Schnitzler
Schutze ihrer Idee und zur Verhütung
gelungen, eine in vielen Reizen schil¬
gröbsten Unheils, neu. Endlich siegt
lernde Novelle daraus zu machen.
doch die organisierte Staatsgewalt.
Schon der milde Hintergrund der Be¬
Und zuletzt ergreift man die alten Bock¬
gebenheit, ein italienisches Landhaus
reiter, darunter zahlreiche ehrenwerte
mit schlichten, natürlichen Bewohnern,
Bürger; als ihr Führer entpuppt sich
übt eine ausgleichende Wirkung. Und
der allbeliebte, prächtige Arzt Dr. Kirch¬
über das Widerliche der Ereignisse
hoff, der zuletzt gemartert und hin¬
gerichtet wird. Das Strafgericht waltet
triumphiert vollends neben der faszi¬
nun furchtbar seines Amtes. „Der
nierenden Sprache das unaufdringliche,
Scharfrichter verdiente durch die Tor¬
aber mit voller Sicherheit aufgerollte
Bild eines zwar wertarmen, aber so
turen, Auspeitschungen und Hinrich¬
tungen an 500 Goldgulden. „Das ganze
menschlich wie geschichtlich nicht be¬
Land roch nach Menschenaas.“ So
deutunglosen Charakters, der bis in
seine letzten Tiefen oder Scheintiefen
schließt die Novelle. Sie ist in der
Tat „handfest“ und handfest erzählt.
hinein und noch dazu im Zusammen¬
Klar und sicher aus knappen Auftritten
hang mit dem Geist seiner Zeit und
und Anekdoten aufgebaut, bietet sie
Gesellschaftssphäre veranschaulicht wird.
Das ist gewiß nicht erschütternd. Wir
ein geschichtliches Ereignis von eigen¬
tümlicher Wucht und Symbolhaftigkeit
haben von Schnitzler manches tiefer
anschaulich und packend. Aber letzten
erregende Werk. Aber es ist eine dich¬
Endes bleibt diese handfeste Erzähl¬
terische Arbeit von höchster Kunst, die
als solche genossen werden kann und will.
kunst etwas flach. Sie bringt zwar nicht
Aus derberem Holze geschnitzt ist
nur zum Lächeln, um so weniger, als
Josef Ponten. Es klingt wie ein
Ponten sehr geschickt die tieferen gesell¬
Geleitwort zum eigenen Wollen und
schaftssymbolischen Beweggründe des
ganzen Vorgangs aufdeckt und ihre
Können, wenn er einmal eine seiner
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