Badearzt
Doktor Graesler
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2g — . K enen e e e
Nr. 41
Sonntagsblatt des „Bund¬
Kampf mit brutalen Abenteurern einem Menschenkinde an Qual und Elend
bieten kann, das hat Rudolf Maria Holzapfel in ungeahntem Maße erfahren.
Vielleicht sind ähnliche Leiden einem so stark empfindenden, so hilfsbereit und
aufopfernd sich mühenden Wesen niemals beschert gewesen. Vielleicht auch
hätte die Not und das Bedürfnis der Zeit in einem Menschen niemals zu solcher
Spannung heranwachsen können, um uralt aufgerichtete Schranken zu durch¬
brechen, wenn die Last, die einem Wesen aufgebürdet war, nicht ins Uaber¬
menschliche gegangen wäre.
(Fortsetzung folgs)
—
Au 10
Kritische Rundschau
Doktor Gräsler, Badearzt. Erzählung von Arthur Schnitz¬
Alierlag von S. Fischer, Berlin. 1917.)
n dem Seebad der südlichen Insel Lanzarote bringt Doktor Gräsler
alljährlich als Badearzt die Monate zu, während welchen es in seiner deut¬
schen oder österreichischen Heimat Winter ist. Als 48jähriger Junggeselle, der
als Schiffsarzt in aller Welt herumgekommen ist, aber nirgends die wahre
Heimat, eine Heimat des Herzens fand wird er durch den Tod seiner ver¬
schlossenen, verbitterten Schwester, die ihm bisher das Haus bestellte, mit
herbstlichem Erschaudern inne. daß sein Lebenssommer zu Ende geht und ihm
das einsame Alter naht. Stin und schuldlos hat er die letzten Jahre ver¬
bracht, fern vom Strudel leidenschaftlicher Gefühle, — er spürt, daß er zum
Philister wird. Da führt ihn in seiner nördlichen Heimat die Praxis in das
Forsthaus, wo er Sabine, die Jungfrau mit der reinen, kühlen Seele kennen
lernt. Sabine hat geliebt und hat entsagt, — nun glaubt sie, mit dem
guten, rechtschaffenen Doktor Gräsler noch eine glückliche, leidenschaftslose
Ehe schließen und mit ihm ein Sanatorium führen zu können. Sie offenbart
ihm ihre Freundschaft und legt ihm den entscheidenden Schritt nahe, — d
zogert Dr. Gräsler, der alternde Mann, das junge Glück, das sich ihm so
plotzlich bietet, rasch zu fassen. Bedenkzeit — Reise in seine Vaterstadt —
kurze Wochen der Prüfung. In der Landstadt aber stürzt er sich in einen
unerwarteten Wirbel leidenschaftlicher Liebeserlebnisse. Die Ladenmamsell
Katdarina wirft sich ihm mit halb kindlicher, halb dirnenhafter Glut an den
Hals, — er erlebt einen kurzen, heißen Liebesrausch, der vorübergehen wird
und ihn zur Liebe für Sabine wiedererwecken soll. Aber, zurückgekehrt,
findet er Sabine kühl und abweisend, — er kommt zu spät. Trotzig reist er
zu Katharina, der heißblütigen Kleinen zurück, um sie###seiner Frau zu
machen, — da liegt Katharina, von ihm — der vorher ein scharlachkrankes
Kind des Hauses gesund gemacht hat — angesteckt, an Sch irlach krank dar¬
nieder und stirbt. Sturmnacht des Schmerzes schlägt über ihm zusammen,
Endlich erwacht er, durch den tragischen Tod Katharinas erlost, zum Leben
zurück, heiratet die verwitwete Mutter des geheilten Kindes und reist mit
ihr nach Lanzarote in den sonnigen Süden ...
Das ist in großen Zügen die Geschichte des Doktor Gräsler. Arthur
Schnitzler hat sich vielleicht in keinem seiner Werke so menschlich warm und
rückhaltlos gegeben wie in diesem tief ergreifenden Buche, das mit einer ganz
wundervollen Ruhe und abgeklärten Reife geschrieben ist. Die Psychologie
des alternden Mannes ist schlicht und wahr und deshalb erschütternd dar¬
gestellt. Wie ein erhabener, breiter Strom, in dem sich der ewige Himmel
schaut, fließt die Erzählung vorüber und bannt den Leser trotz ihrer klassi¬
schen Ruhe bis zum letzten Worte. Wie warmes, noch einmal hinreißend
Doktor Graesler
box 4/9
2g — . K enen e e e
Nr. 41
Sonntagsblatt des „Bund¬
Kampf mit brutalen Abenteurern einem Menschenkinde an Qual und Elend
bieten kann, das hat Rudolf Maria Holzapfel in ungeahntem Maße erfahren.
Vielleicht sind ähnliche Leiden einem so stark empfindenden, so hilfsbereit und
aufopfernd sich mühenden Wesen niemals beschert gewesen. Vielleicht auch
hätte die Not und das Bedürfnis der Zeit in einem Menschen niemals zu solcher
Spannung heranwachsen können, um uralt aufgerichtete Schranken zu durch¬
brechen, wenn die Last, die einem Wesen aufgebürdet war, nicht ins Uaber¬
menschliche gegangen wäre.
(Fortsetzung folgs)
—
Au 10
Kritische Rundschau
Doktor Gräsler, Badearzt. Erzählung von Arthur Schnitz¬
Alierlag von S. Fischer, Berlin. 1917.)
n dem Seebad der südlichen Insel Lanzarote bringt Doktor Gräsler
alljährlich als Badearzt die Monate zu, während welchen es in seiner deut¬
schen oder österreichischen Heimat Winter ist. Als 48jähriger Junggeselle, der
als Schiffsarzt in aller Welt herumgekommen ist, aber nirgends die wahre
Heimat, eine Heimat des Herzens fand wird er durch den Tod seiner ver¬
schlossenen, verbitterten Schwester, die ihm bisher das Haus bestellte, mit
herbstlichem Erschaudern inne. daß sein Lebenssommer zu Ende geht und ihm
das einsame Alter naht. Stin und schuldlos hat er die letzten Jahre ver¬
bracht, fern vom Strudel leidenschaftlicher Gefühle, — er spürt, daß er zum
Philister wird. Da führt ihn in seiner nördlichen Heimat die Praxis in das
Forsthaus, wo er Sabine, die Jungfrau mit der reinen, kühlen Seele kennen
lernt. Sabine hat geliebt und hat entsagt, — nun glaubt sie, mit dem
guten, rechtschaffenen Doktor Gräsler noch eine glückliche, leidenschaftslose
Ehe schließen und mit ihm ein Sanatorium führen zu können. Sie offenbart
ihm ihre Freundschaft und legt ihm den entscheidenden Schritt nahe, — d
zogert Dr. Gräsler, der alternde Mann, das junge Glück, das sich ihm so
plotzlich bietet, rasch zu fassen. Bedenkzeit — Reise in seine Vaterstadt —
kurze Wochen der Prüfung. In der Landstadt aber stürzt er sich in einen
unerwarteten Wirbel leidenschaftlicher Liebeserlebnisse. Die Ladenmamsell
Katdarina wirft sich ihm mit halb kindlicher, halb dirnenhafter Glut an den
Hals, — er erlebt einen kurzen, heißen Liebesrausch, der vorübergehen wird
und ihn zur Liebe für Sabine wiedererwecken soll. Aber, zurückgekehrt,
findet er Sabine kühl und abweisend, — er kommt zu spät. Trotzig reist er
zu Katharina, der heißblütigen Kleinen zurück, um sie###seiner Frau zu
machen, — da liegt Katharina, von ihm — der vorher ein scharlachkrankes
Kind des Hauses gesund gemacht hat — angesteckt, an Sch irlach krank dar¬
nieder und stirbt. Sturmnacht des Schmerzes schlägt über ihm zusammen,
Endlich erwacht er, durch den tragischen Tod Katharinas erlost, zum Leben
zurück, heiratet die verwitwete Mutter des geheilten Kindes und reist mit
ihr nach Lanzarote in den sonnigen Süden ...
Das ist in großen Zügen die Geschichte des Doktor Gräsler. Arthur
Schnitzler hat sich vielleicht in keinem seiner Werke so menschlich warm und
rückhaltlos gegeben wie in diesem tief ergreifenden Buche, das mit einer ganz
wundervollen Ruhe und abgeklärten Reife geschrieben ist. Die Psychologie
des alternden Mannes ist schlicht und wahr und deshalb erschütternd dar¬
gestellt. Wie ein erhabener, breiter Strom, in dem sich der ewige Himmel
schaut, fließt die Erzählung vorüber und bannt den Leser trotz ihrer klassi¬
schen Ruhe bis zum letzten Worte. Wie warmes, noch einmal hinreißend