28.
1 Beate und ihr Sohn
Fri
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e esethente
und Fühlens auflöst und diese Prozesse selbst in ihren durch
den Bezug auf Charakter, Milieu und Erlebnis so überaus
komplizierten Dorgängen auf ihren letzten Arsprung zurückführt.
In der schwülen Erotik gemahnt dieses Buch an „Frau Berta
Garlan“. Hier wie dort handelt es sich um das Liebesleben
einer reifen Frau, das mit minutiöser Genauigkeit, die fast
peinlich anmutet, vor uns aufgedeckt wird. Während aber
Berta Garlan ihre erotischen Träume in die Dergangenheit
zurückträumt, und so die letzte große Enttäuschung ihres Lebens
durchmacht, kommt Frau Beate zehn Jahre nach dem Tod
ihres Gatten, mit dem sie in glücklicher Ehe gelebt und dem
sie mit echtem Schmerz nachgetrauert hat, zur Erkenntnis,
daß sie ihn betrogen hat, daß sie „eine Derlorene von An¬
beginn, ein Dasein phantastisch-wilder Lust“ geführt hat.
Niemand, auch sie nicht, hat es je geahnt. „Jetzt aber war
es offenbar geworden. Immer tiefer zu gleiten war sie be¬
stimmt, und eines Tages, wer weiß wie bald, wird es der
ganzen Welt klar sein, daß ihre ganze bürgerliche Wohl¬
anständigkeit eine Lüge war“. Diese schwere Erkenntnis ge¬
winnt sie, als sie den Freund ihres Sohnes, dem sie sich aus
rein sinnlichen Gelüsten hingegeben hat, mit seinem Siege
renommieren hört. Auch dem Sohne gibt das willige Ge¬
rücht Kunde von dem Treiben der Mutter. Er ist fassungs¬
los und er kann das Leben nicht mehr ertragen. Beate aber,
die ihren Sohn schon auf den Spuren seines Daters wandeln
sieht und ihrem eigenen Leben rettungslos gegenübersteht,
nimmt in einer unheimlichen rätselschweren Stunde ihr Kind
mit sich in den Tod.
J. K. Natislav.
Rabindranath Tagore „Gitanjali“ (Sangesopfer).
7. Auflage. Kurt Dolf Derlag 1914. Geb. 3,50.
Für die Menschen dieser Seit ist das ein ganz über¬
raschendes Buch. Wir haben an solche Worte fast nicht
mehr geglaubt, dachten, sie wären längst verklungen vor vielen
Tagen, und nun hören wir sie doch wieder und wissen, daß
sie zu unsren Zeiten gesungen wurden von einem, der mit
uns lebt; und sie rauschen uns in den Ohren.
Dem wird sich niemand verschließen können, dem reichen
reinen Klang dieser Gedichte, wer es nicht verlernt hat zu
hören, (das danken wir auch der schönen Abersetzung von
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1 Beate und ihr Sohn
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und Fühlens auflöst und diese Prozesse selbst in ihren durch
den Bezug auf Charakter, Milieu und Erlebnis so überaus
komplizierten Dorgängen auf ihren letzten Arsprung zurückführt.
In der schwülen Erotik gemahnt dieses Buch an „Frau Berta
Garlan“. Hier wie dort handelt es sich um das Liebesleben
einer reifen Frau, das mit minutiöser Genauigkeit, die fast
peinlich anmutet, vor uns aufgedeckt wird. Während aber
Berta Garlan ihre erotischen Träume in die Dergangenheit
zurückträumt, und so die letzte große Enttäuschung ihres Lebens
durchmacht, kommt Frau Beate zehn Jahre nach dem Tod
ihres Gatten, mit dem sie in glücklicher Ehe gelebt und dem
sie mit echtem Schmerz nachgetrauert hat, zur Erkenntnis,
daß sie ihn betrogen hat, daß sie „eine Derlorene von An¬
beginn, ein Dasein phantastisch-wilder Lust“ geführt hat.
Niemand, auch sie nicht, hat es je geahnt. „Jetzt aber war
es offenbar geworden. Immer tiefer zu gleiten war sie be¬
stimmt, und eines Tages, wer weiß wie bald, wird es der
ganzen Welt klar sein, daß ihre ganze bürgerliche Wohl¬
anständigkeit eine Lüge war“. Diese schwere Erkenntnis ge¬
winnt sie, als sie den Freund ihres Sohnes, dem sie sich aus
rein sinnlichen Gelüsten hingegeben hat, mit seinem Siege
renommieren hört. Auch dem Sohne gibt das willige Ge¬
rücht Kunde von dem Treiben der Mutter. Er ist fassungs¬
los und er kann das Leben nicht mehr ertragen. Beate aber,
die ihren Sohn schon auf den Spuren seines Daters wandeln
sieht und ihrem eigenen Leben rettungslos gegenübersteht,
nimmt in einer unheimlichen rätselschweren Stunde ihr Kind
mit sich in den Tod.
J. K. Natislav.
Rabindranath Tagore „Gitanjali“ (Sangesopfer).
7. Auflage. Kurt Dolf Derlag 1914. Geb. 3,50.
Für die Menschen dieser Seit ist das ein ganz über¬
raschendes Buch. Wir haben an solche Worte fast nicht
mehr geglaubt, dachten, sie wären längst verklungen vor vielen
Tagen, und nun hören wir sie doch wieder und wissen, daß
sie zu unsren Zeiten gesungen wurden von einem, der mit
uns lebt; und sie rauschen uns in den Ohren.
Dem wird sich niemand verschließen können, dem reichen
reinen Klang dieser Gedichte, wer es nicht verlernt hat zu
hören, (das danken wir auch der schönen Abersetzung von
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