I, Erzählende Schriften 28, Frau Beate und ihr Sohn. Novelle, Seite 48

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und ihr Sohn
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28. I ALA AAaAa
KR191
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Die Erotik als Schicksal
Karl Rosner
Freudensprung nickte demütig und eilte die Treppen hinab.
Nach einer Stunde kam er wieder. „Nun?“ fragte Kühne gierig.
Johannes präsentierte ihm bescheiden eine Düte mit zwei Schusterleibeln.
„Mehr hab' ich nicht ausfechten können in der kurzen Zeit, Meister.“
„Nun, viel ist's ja freilich nicht, du bist kein Diplomat und Lebens¬
künstler, das hätt' ich mir denken können, aber etwas ist's doch, gib!“
Und riß ihm die Düte aus der Hand und biß in das frische Brot und be¬
gann voll Hunger zu essen. „Na, und was ist's mit dir? Iß doch auch.
Das ist dein Teil und gehört dir zu.“ Er reichte ihm großmütig das zweite
Brot. Freudensprung setzte sich neben Kühne auf den Rand des schmutzigen
Sofas, schwieg und wies das Angebot mit einer leisen Gebärde ab.
Da griff Kühne auch nach dem zweiten Schusterleibel und lachte: „Dir
ist der Appetit vergangen, mein Sohn? Nur Geduld, wenn du einmal
so alt bist wie ich, Meister Joachim Kühne, wird dir das Leben den
Hunger nicht mehr verderben.“ Das frische Brot krachte unter seinen
mächtigen Bissen. Und damit war er wieder vergnügt. Und Freuden¬
sprung sah ihm mit einem demütig glücklichen Blicke zu, da er wieder
seinen Meister und für immer hatte.
R
Die Erotik als Schicksal.
Arthur Schnitzler, „Frau Beate und ihr Sohn“ — Kon¬
rad-Vollert, „Sonja“ —Clara Viebig, „Das Eisen im Feuer“.
Von Frauen, die als Beladene unter der Last ihrer Erotik durch
das Leben gehen, von Geschehnissen, vor deren Weg diese Erotik be¬
stimmend steht, sprechen diese Bücher. Erotik — nicht Liebe. Das Wort
des Dichters hat hier keine Geltung, und nicht der Zug des Herzens ist
für diese Frauen des Schicksals Stimme. Das Hasten ihres unruhvollen
Wesens, der unklare Drang ihrer ewig neu suchenden Wünsche gönnt
ihnen nicht Zeit und Rast zu liebendem Verweilen. Als Kinder unserer
umwertenden Zeit, die selbst den Zauber fester Scholle und stark gefügter
Bande nicht mehr gelten läßt, hat man sie gedeutet und hat behauptet,
daß der Vergangenheit die Art von Frauen fremd gewesen sei. Sie aber
waren immer und tragen heute nur das Kleid aus unseren Tagen. Sie
grüßen ihre Schwester schon in Lilith, Adams erster Frau, — sie sind die
Töchter Kains, die unstet wandeln müssen, die für die Sünden dunkler
Ahnen mit ihrem Erbe, ihren dunklen Trieben büßen. Erfüllung ist ihnen
versagt, und jedes Glück welkt, wenn sie es zu halten glauben. Den Erleb¬
nissen geben sie sich hin, und sie wissen bald, daß keines davon ihnen reifen
wird, daß sie keines zu dem Erlebnis vertiefen können. Sie sind dazu
verdammt, wie Sonja heimatlos von Hand zu Hand zu gehen — und wenn
sie, wie Beate vor ihrer Lebenswende, über ein scheinbar klares Frauen¬
tum blicken, dann erkennen sie, daß diese Klarheit nur über einer Trüb¬
nis ruht, an der auch kein Gedanke rühren sollte.
Frau Beate in Schnitzlers Novelle*) ist seit fünf Jahren
*) S. Fischer Verlag, Berlin.
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