ihr Sohn
28. Frau Beate un
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Erstaunlich ist die Menge der Varianten desselben Themas in
demselben Werke. Noch eine Motivdoublierung finden wir in dem
Verhältnis, das Ferdinand Heinold mit einer alternden Witwe hatte.
Es hatte ihm die Willenskraft gefehlt, sich aus diesen Banden zu
befreien und erst Beatens Energie hat er die Lösung des Verhältnisses zu
danken. Es scheint, als habe das jüngere Liebesobjekt den Mann aus der
Beziehung zu der alternden Frau lösen müssen. So wie Fortunata für
Hugo, so ersetzte auch für seinen Vater jene alternde Witve dasselbe
Liebesobjekt: die Mutter.
Die Vermutung taucht auf, daß der Dichter anfänglich das Inzest¬
motiv in noch breiterer Ausgestaltung hervortreten licß, und dab der
Reichtum an verhüllten Mativdoublierungen die Abschwächung der Inten¬
sität verrät. Ob diese Vermutung richtig ist, entzieht sich natürlich unserer
Kontrolle.
Mit dem Walten und Wirken inzestuöser Strömungen ist die unbe¬
wußte Haßeinstellung gegen den Vater enge verknüpft. In einer jener rasch
entgleitenden und doch lange nachwirkenden Szenen, die Schnitzler wie
wenige der Dichter unserer Tage zu gestalten versteht, kommt auch diese
Strömung bei Mutter und Sohn zum Ausdruck. Das Bild des toten
Schauspielers, dessen Verhöhnung die beiden wortlos vorüberziehen lassen,
wirkt wie eine stumme und doch beredte Drohung.
Der Dichter hat es auch in seinem jüngsten Werk verstanden, den
Blick seiner Leser in jene Tiefe zu lenken, deren dunkle Gewalten einen
so großen und so unverstandenen Anteil an unserem Schicksal besitzen.
Dr. Theodor Reik.
WILHELM OSTWALD, Auguste Comte, Der Mann und das
Werk. (Leipzig 1914. Verlag Unesma)
Dem Interesse Ostwalds für große Männers konnte Auguste Comtes
Persönlichkeit schon deshalb nicht entgehen, weil sein Monismus sachlich
durchaus mit Comtes Positivismur (Die Wissenschaft als oberste Instarze)
zusammenfällt.
Comtes Persönlichkeit ist auch psychoanalytisch sehr interessant, ob¬
wohl natürlich die hier beigebrachten biographischen Details nicht genügen. Auch
sind wir nicht gewohnt, geistige Überanstrengung u. dgl. als Ursache von Psy.
chose anzusehen, sondern fragen schon nach der Psychogenese des gesteigerten
Arbeitsdranges. Anderseits aber zeigt Ostwald hier tieferes Verständnis
für die Bedeutung der spsychischen Regressiong und erklärt die Rückkehr
des alt gewordenen Antimetaphysikers zur Religion als Regression auf die
Kindheit, in der Comte unter dem Einfluß der bigetten Mutter stand.
Uns fällt auf, daß Comte, der im 28. u. 29. Jahre eine akute
Psychose durchmachte, in den folgenden Jahrer Zeichen von Verfolgungs¬
und Größenwahn und vom 48. Lebensjahre an viele Züge greligiöser Para¬
noiat verrät. Er fühlt sich als Hohepriester der „Religion der Menschheite,
stellt Kultusregeln auf, macht einen eigenen Kalender, hält Sonntagspredigten
usw. Der ursprüngliche Bekämpfer aller Religion und Mystik landet im
Hafen eines „Katholizismus ohne Christentums, Sein Mystizismus nimmt
seinen Ursprung vom Grabe einer Geliebten, mit der er im 47. Lebensjahre
— nach Trennung von seiner Gattin — in einem platonischen Liebesrausch
gelebt hatte, die ihm aber nach einem Jahr durch den Tod entrissen wurde,
•Lebe wohl meine ewige Gefährtin, die du mir gleichzeitig Gattin, Schwester
und Tochter warstl, apostrophiert er die Dahingegangene in einem dithy¬
rambischen Nachruf, den er als Widmung seiner PPolitique positive“ vor¬
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Erstaunlich ist die Menge der Varianten desselben Themas in
demselben Werke. Noch eine Motivdoublierung finden wir in dem
Verhältnis, das Ferdinand Heinold mit einer alternden Witwe hatte.
Es hatte ihm die Willenskraft gefehlt, sich aus diesen Banden zu
befreien und erst Beatens Energie hat er die Lösung des Verhältnisses zu
danken. Es scheint, als habe das jüngere Liebesobjekt den Mann aus der
Beziehung zu der alternden Frau lösen müssen. So wie Fortunata für
Hugo, so ersetzte auch für seinen Vater jene alternde Witve dasselbe
Liebesobjekt: die Mutter.
Die Vermutung taucht auf, daß der Dichter anfänglich das Inzest¬
motiv in noch breiterer Ausgestaltung hervortreten licß, und dab der
Reichtum an verhüllten Mativdoublierungen die Abschwächung der Inten¬
sität verrät. Ob diese Vermutung richtig ist, entzieht sich natürlich unserer
Kontrolle.
Mit dem Walten und Wirken inzestuöser Strömungen ist die unbe¬
wußte Haßeinstellung gegen den Vater enge verknüpft. In einer jener rasch
entgleitenden und doch lange nachwirkenden Szenen, die Schnitzler wie
wenige der Dichter unserer Tage zu gestalten versteht, kommt auch diese
Strömung bei Mutter und Sohn zum Ausdruck. Das Bild des toten
Schauspielers, dessen Verhöhnung die beiden wortlos vorüberziehen lassen,
wirkt wie eine stumme und doch beredte Drohung.
Der Dichter hat es auch in seinem jüngsten Werk verstanden, den
Blick seiner Leser in jene Tiefe zu lenken, deren dunkle Gewalten einen
so großen und so unverstandenen Anteil an unserem Schicksal besitzen.
Dr. Theodor Reik.
WILHELM OSTWALD, Auguste Comte, Der Mann und das
Werk. (Leipzig 1914. Verlag Unesma)
Dem Interesse Ostwalds für große Männers konnte Auguste Comtes
Persönlichkeit schon deshalb nicht entgehen, weil sein Monismus sachlich
durchaus mit Comtes Positivismur (Die Wissenschaft als oberste Instarze)
zusammenfällt.
Comtes Persönlichkeit ist auch psychoanalytisch sehr interessant, ob¬
wohl natürlich die hier beigebrachten biographischen Details nicht genügen. Auch
sind wir nicht gewohnt, geistige Überanstrengung u. dgl. als Ursache von Psy.
chose anzusehen, sondern fragen schon nach der Psychogenese des gesteigerten
Arbeitsdranges. Anderseits aber zeigt Ostwald hier tieferes Verständnis
für die Bedeutung der spsychischen Regressiong und erklärt die Rückkehr
des alt gewordenen Antimetaphysikers zur Religion als Regression auf die
Kindheit, in der Comte unter dem Einfluß der bigetten Mutter stand.
Uns fällt auf, daß Comte, der im 28. u. 29. Jahre eine akute
Psychose durchmachte, in den folgenden Jahrer Zeichen von Verfolgungs¬
und Größenwahn und vom 48. Lebensjahre an viele Züge greligiöser Para¬
noiat verrät. Er fühlt sich als Hohepriester der „Religion der Menschheite,
stellt Kultusregeln auf, macht einen eigenen Kalender, hält Sonntagspredigten
usw. Der ursprüngliche Bekämpfer aller Religion und Mystik landet im
Hafen eines „Katholizismus ohne Christentums, Sein Mystizismus nimmt
seinen Ursprung vom Grabe einer Geliebten, mit der er im 47. Lebensjahre
— nach Trennung von seiner Gattin — in einem platonischen Liebesrausch
gelebt hatte, die ihm aber nach einem Jahr durch den Tod entrissen wurde,
•Lebe wohl meine ewige Gefährtin, die du mir gleichzeitig Gattin, Schwester
und Tochter warstl, apostrophiert er die Dahingegangene in einem dithy¬
rambischen Nachruf, den er als Widmung seiner PPolitique positive“ vor¬