I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 17

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ADÖLF SCHUSTERMANN
ZEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAU
BERLIN SG. 16, RUNGE-STRASSE 25/27.
Zeitung: Berliner Lokal Anzeiger
Adresse: Berlin
Datum:
Arthur Schnitzlers
neuer Roman.
Zu den schaffenden Geistern, für die jedes
neue Werk auch eine neue Welt bedeuten mag,
gehört Arthur Schnitzler gewiß nicht. Der Kreis
der Erscheinungen, den sein Blick und sein Wille
schöpferisch durchdringt, hat sich seit dem ersten
ruhmvollen Aufklingen seines Namens kaum
merklich verändert, keinesfalls vergrößert. Um so
eindringlicher tastet sich sein zum Feinsten ge¬
schärftes Verständnis in die letzten seelischen
Grundlagen dieser Welt und in die kleinen kon¬
struktiven Geheimnisse ihres gesellschaftlichen Auf¬
baues vor. Es gibt heute keinen, der die innere
und äußere Kultur, das tönende Gespräch und die
verhaltene Sehnsucht, die lässig=stolze Ueppigkeit
und die bewußte Ohnmacht des gesicherten und
gepflegten Wiener Bürgertums so weise anzu¬
schauen, so überlegen abzubilden vermöchte wie
er. Es gibt keinen, dessen gesamtes Werk sich
so unmittelbar, schon in den Aeußerlichkeiten der
Erfindung, als Dokument einer bestimmten Zeit
und einer bestimmten Klasse kundgibt. Darin
zeigt sich vielleicht di vornehmste und erheblichste
Bedeutung seines Schaffens an: daß es den gei¬
stigen Inhalt dieser Wiener Welt einer dauern¬
den und tieferen Erkenntnis aufschließt.
Wer seine Arbeit unter dieser Perspektive an¬
sicht, dem muß sein letztes Buch als sein bedeu¬
Der Weg ins Freie. Roman von Arthur Schnitzler.
S. Flscher, Berlin.
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tendstes erscheinen. Frühere mögen kräftiger, Erlebnis der Romau gibt, nicht nur aus den
blendender, an Farben und Formen lebhafter
Zweifeln, Frazen, Hemmungen der eigenen
sein; dieses ist umfassender, an Sinn reicher und
Seele heraus, sondern auch aus dem seltsam
im Gefühl ernster. Und es ist mutiger als die
schattenreichen Zwielicht einer interessanken, aber
andern vor ihm. Ein befreiter Mut, ebenso frei
nicht ungefährlichen geistigen Umgebung. Einer
von kläglicher Vorsicht wie von geckischer Ver¬
Umgebung von gebildeten, sehr kultivierten, leb¬
wegenheit, hat den Entschluß zu diesem Buche ge¬
haft beweglichen Juden, wie sie heute schon einen
fördert. Zum erstenmal stellt sich Schnitzler mit
ganz prägnanten Typus innerhalb der Schichte
offenem Auge und mit offenem Herzen auch vor
des besten Wieners Bürgertums darstellen. Der
die Rassenprobleme hin, die seine umgrenzte Welt
schmerzlich verbitterte und verbissene Streit ihrer
Gedanken und Gefühle, in den dieser Unbeteiligte
heftig bewegen. Sie waren seit jeher im
so
Mechanismus seines Geistes, in den quellenden
verwundert und etwas widerwillig hineingezogen
und bewegenden Kräften seines Gefühls merklich
wird, füllt nun den wichtigsten Teil des Buches
wirksam; die Rasse, der er angehört, hat sich noch
aus. Die bösen Fragen nach der Sicherheit und
in jedem seiner Werke, im guten wie im schlech¬
Berechtigung eines Heimatsgefühles, nach dem
ten, unverkennbar ausgeprägt. In ihr wurzelt
wahren Grund so vieler wirklicher, geheuchelter
der überlegene Witz, die kühne und weithin füh= und eingebildeter Feindseligkeit, nach dem ersten
rende Dialektik seiner Literatur, in ihr auch die
Quell des uralten Fluches, der dem unsteten
allzu umsichtige, allzu empfindliche Art, sich aus¬
Volke für immer zu folgen scheint, heben da ihre
einanderzusetzen und eine gewisse unfruchtbare
gespenstisch bleichen, kummervollen Gesichter
Verbissenheit in dem rein geistigen Gehalt seiner
empor. Von allen Seiten stürzen sie herbei: aus
Stoffe. Nun aber stellt er diesen wichtigen Kern
tief in sich verwühlten Seelen, aus sorgsam ver¬
seines künstlerischen Wesens, der bisher nur im
schlossenen, weltabgewandten Inte
enzen, aus
Innern des Werkes, hinter den Dingen ver¬
hohlen Eitelkeiten, aus verwun
C
borgen, seine Gegenwart spüren ließ, als Objekt
enttäuschtem Gefühl. Ueberall
der Anschauung vor sich hin. Was seinem Schaf¬
gesogen und festgesetzt; diese
fen seit jeher insgeheim Antrieb und Führung
Welt kann nicht einen Pulsschlag t#
gab, hat sich nun zur greifbaren Form gefunden,
von ihnen irgendwie mitbestimmt wäre.
tritt aus dem Dunkel unverantwortlicher In¬
Wiener Luft ist von oben bis unten vo
stinkte in den lichten Kreis, den das bewußte Er¬
diesen Fragen. Damit hat dieser Romat
kennen durchhellt. Das moderne Wiener Juden¬
Milieu der Gegend, der Menschen, der
tum stand immer als ein bestimmender Zug in
formen nach das Milieu spezifisch lokaler
Schnitzlers literarischer Physiognomie; jetzt hat
bleme angeschlossen. Er greift dadurch um
er es, mit seinen vielerlei Fragen und Qualen,
ieser mode
tiefer in den geistigen Kern
Ueberlegenheiten und Ohnmachten, zum bedeu¬
Wiener Gesellschaft. Was er darstellt, rei
senden Inhalt seiner Schöpfung erhoben.
geradezu in symbolische Bedeutung hinau
reichste Begabung, die einer schönen, altererb
Probleme der Rasse behandelt dieser Roman.
Kultur entstammt, verhalten und umstrickt
In einer Umgrenzung freilich, die Schnitzler als
seinem dunklen Netz quälend kleiner, unfru
Erzähler sich immer strenger, immer bewußter
barer Fragen. Das bürgerliche Wien von heute
auferlegt; nie dringt er über das Gebiet des
wohlgefestigten, sozial und ökonomisch sicheren
Wer diesen höheren Sinn aus dem Buche
Bürgertums. Um so freier, um so behender, um so
auszulesen vermag, der wird auch in den lan
reicher in mannigfaltiger Beziehung bewegen sich
Strecken ergebnisloser Diskussion, in dem
die Gedanken in diesem wissentlich verengten
geblichen Hin und Her widerstreitender 2
Kreis. Von distinguiertem Glanz nach außen,
nungen die zweckvolle Schönheit finden könt
von intensivem Licht im Innern ist die Schil¬
Und über alle dem ist die Meistersche
derung dieser Menschen. Doppelte Helle fällt auf
zu bewundern, der das Tiefste noch m
jeden: aus den Aufschlüssen, die die Handlung
fälliger Eleganz, das Bewegteste mit
gibt, und aus dem Rückstrahl der Selbstbeobach¬
Diskretion, das Peinliche mit so still üben
em
tung. So tritt Profil um Profil der einzelner
Humor vorzubringen weiß.
Gestalten scharf und klar aus einer Gemeinsam¬
Willi Handl
keit heraus, die darum doch, deutlich fühlbar und
Die dünne, ganz
langsam und bedächtig fortgesponnene Fabel
führt ein recht gewöhnliches Erlebnis eines un¬
gewöhnlichen Menschen vor.
Behaglich dämmeriges Hinübersinken in eine
zärtliche und edle Liebe; halb bewußter Kampf
des Triebes, sich frei und ohne Verantwortung
zu erhalten gegen die Gefühle seelischer und
gesellschaftlicher Verpflichtung; dann die Erwar¬
tung eines Kindes, die für die Gebundenheit
gegen die Freiheit zu entscheiden scheint; und
zuletzt der Tod des Neugeborenen und die end¬
gültige Festigung und Klärung des Willens, nur
sich selbst und der eigenen Entwicklung zu ge¬
hören: der Weg ins Freie. Dieser führt aber
die feine und vornehme Persönlichkeit, deren