Was hat nun Schnitzler daraus gemacht? Eigent¬
liche Handlung: die Geschichte einer Liebe zwischen
einem jungen Baron und einem Wiener Bürgermäd¬
chen: wie das Verhältnis entsteht, wie es nicht ohne
Folgen bleibt, wie das Kind gleich bei der Geburt
stirbt, wie die Geschichte klanglos auseinandergeht.
Zweitens: da der Held Komponist, die Heldin Klavier¬
lehrerin und Sängerin ist, da sie beide in demselben
Kreise verkehren, da dieser Kreis literarisch und künst¬
lerisch lebhaft interessiert ist, bildet das geistige Leben
des heutigen Wien, zu einem Teil wenigstens, den
Hintergrund des Verhältnisses. Drittens: da die
Ehrenberg, Stauber, Golowski, Eißler, Nürnberger,
Wyner, Oberberger und Bermann Juden sind, zum
Teil unter ihrem Judentum leiden, fast alle es als ein
Problem empfinden, so wird die Judenfrage von vielen
Seiten beleuchtet. Aus all dem ergibt sich, daß ein
individuelles Geschick offenbar sorgsam vor die be¬
wegenden Fragen der Zeit gestellt worden ist, aber
nicht organisch verbunden, denn weder Georg noch
Anna sind Juden, sondern malerisch: als Kontrast¬
wirkung. Die Umwelt ist ohne Einfluß auf die Ent¬
wicklung des Verhältnisses; es würde mit einem ande¬
ren Hintergrunde wenig anders verlaufen. Das indi¬
viduelle Problem und das gesellschaftliche Problem be¬
rühren sich an keiner Stelle; sie schneiden sich nicht, sie
haben kein gemeinsames Segment. Damit soll nicht
etwa ein Fehler vorgeworfen, sondern nur die Ab¬
wesenheit eines Vorzugs, der Verzicht auf ein starkes
Motiv konstatiert werden.
Das Problem ist das des Liebesverhältnisses. Wenn
Oskar Ehrenberg der Reiter Amy einen Tritt gibt, so
richtet er ihr zugleich einen Handschuhladen ein. Der
Fall ist glatt; denn daß man sein Matschakerl nicht hei¬
ratet, ist klar. Wenn Heinrich Bermann seinem Ver¬
hältnis einen Tritt gibt, so ist der Fall nicht minder
klar: sie betrügt ihn; außerdem, daß man eine Schau¬
spielerin, mit der man ein Verhältnis hat, nicht hei¬
ratet, ist die Regel. Aber diese rothaarige Schmieren
komödiantin geht ins Wasser! Jetzt steht sofort das
Prohlem da: ist Bermann für diesen Tod verantwort¬
lich? Wenn Georg Wergenthins und Annas Liebe nicht
ohne Folgen bleibt, so ist der Fall nicht mehr glatt und
sind die Konsequenzen nicht mehr klar. Denn Anna ist
ein anständiges, gebildetes und liebes Mädel. Ferner:
wenn es einer Schauspielerin im allgemeinen in ihrem
Berufe nicht schadet, daß sie ein Verhältnis hat, so ist
ein Mädchen bürgerlicher Kreise, das ein Kind be¬
kommt, geliefert; sie ist unmöglich, deklassiert. Aber
wenn das Kind stirbt? Gegenfrage: hat sich dadurch
die Pflicht für Georg irgendwie geändert? nicht nur
die Pflicht gegenüber Anna, sondern die gegenüber sich
selbst? Aber, so scheint Georg einzuwenden, gerade
meine Pflicht mir selbst gegenüber fordert, daß ich,
über dies Verhältnis hinweg, meinen Wea finde, den
„Weg ins Freie". Adeliger Dilettant, belüge Dich
nicht! ruft ihm sein Gewissen zu: ob Du je ein rich¬
tiger Komponist werden wirst, ist fraglich; daß Du das
Annerl unglücklich gemacht hast, ist nicht fraglich. Aber
ist denn das Annerl so unglücklich? Ist sie nicht
sehenden Auges den Weg ihres Schicksals gegangen, mit
dem deutlichen Unterbewußtsein: heiraten wird er mich
nie? Und wiegt nicht dies Jahr des Glückes alle spä¬
tere Enttäuschung auf, alle Bitternis und allen Kum¬
mer? Fünf Möglichkeiten gibt es: 1. beide töten sich;
2. er tötet sich; 3. sie tötet sich; 4. sie heiraten; 8. sie
gehen auseinander. Lassen wir die ersten drei aus dem
Spiel: sie sind weniger glaubhaft und weniger sinn¬
reich als die zwei letzten. Es ist wahr, so geht es aus
wie das Hornberger Schießen. Aber es ist das Geschick
der wichtigsten Ereignisse des menschlichen Lebens, daß
sie fast alle mehr oder minder ausgehen wie das Horn¬
berger Schießen. Das Leben selbst hat eine fatale
Aehnlichkeit mit diesem vielberufenen Feste. Aber das
Moralische kommt zu kurz! Es ist wahr, aber dem
moralisch zusammenzulöten; seinen Bruch zürnend zu
strafen; ihn als Psychologe zu erklären. Das erste
hätte der geschickte Familienblattautor getan; das
zweite hätte der gute Volksschriftsteller getan; Schnitz¬
ler konnte, seiner ganzen Art nach, nur das dritte tun.
Vielleicht allerdings ist diese Abwesenheit des Ethi¬
schen, dieser Mangel an moralischer Resonanz ein wirk¬
licher Fehler. Aber dann ist es ein Fehler nicht nur
des Werkes und nicht nur des Autors, sondern unserer
ganzen Zeit, die ihre alten ethischen Normen über
Bord geworfen hat, ehe sie sich neue innerlich erarbei¬
tete. Als Geschöpf dieser Zeit zählt Schnitziers Buch
nicht zu jenen gleichsam zeitlosen Werken, die sich an
Freie
box 3/1
Der N
23 — eeee
eine Leserschaft überhaupt nicht zu wenden scheinen.
Es erwartet sich gebildete Frauen und Männer als
Leser. Es wendet sich noch mehr an Frauen als an
Männer; denn die Darstellung einer Leidenschaft mit
ihren alltäglichen und doch den beiden Beteiligten so
ewig dünkenden Begebnissen wird Frauen mehr als
Männer, mehr sogar als Mädchen ansprechen. Die
Männer mögen sich durch die Betrachtungen, die der
Dichter seine Personen über die Judenfrage anstellen
läßt, schadlos halten, Jünglinge die zitternde Erwar¬
tung des Anfanges, ältere das sanfte Verwehen und
Verklingen des Schlusses mit zärtlicher Schwermut ge¬
nießen. Kaum etwas ist anders als alltäglich in dieser
Erzählung. So ist das Leben, scheint Seite für Seite
zu sagen. Aber ist das Werk wirklich so ganz unpar¬
teiisch? Ist es nicht einseitig vom Standpunkt des
jungen Mannes aus geschrieben? Gleitet es nicht zu
leicht über die Kümmernisse, Aengste und Nöte der
jungen Mutter hinweg, über die Scham und Verzweif¬
lung ihrer einsamen Stunden, über die grenzenlose
Enttäuschung, da das Kind stirbt, über die böse und
wunde Bitterkeit, da sie den Mann sich von ihr lösen,
sieht, als wäre nichts geschehen? Darin liegt eine Un¬
gerechtigkeit. Denn was ihm nur Episode, war ihr der
Inhalt ihres Lebensbechers, und mit Wonne und Qual
gefüllt bis zum Rande. Dies Buch beschreibt mit sanf¬
ter Unerbittlichkeit den Verlauf einer Leidenschaft als
einer Kurve, wobei es auf der fallenden nicht minder
verweilt als auf der ansteigenden. Es urteilt nicht oder
gibt sich zum mindesten den Schein, als wolle es nicht
urteilen. Aber wer schärfer hinhorcht, der hört bald
einen leisen, warmen Unterton von Sympathie heraus,
der Sympathie des Autors für seinen Helden, der
Sympathie des Mannes für den Mann; der glaubt zu
fühlen, wie sehr Schnitzler die Partei Georgs gegen
Anna nimmt, wie er gegen das Mädchen ungerecht ist,
um seinem Helden Unbequemlichkeiten zu ersparen, wie
in Georg, ja in Schnitzler selbst immer noch Anatol
steckt.
Dies gedämpfte Buch ist frischer als manches der
konstruierten erzählenden und dramatischen Werke sei¬
nes Verfassers aus den letzten Jahren. Es hat die
Freiheit, Ruhe und Ründe der Gebärde, die, selbst bei
angeborener Begabung, nur durch nachdenkliche Uebung
erworben werden. In manchen seiner Gesprächsstellen
ist er noch ganz von der süßen Schwermut des Dramas
durchtränkt, das dem Verfasser seinen ersten und
frischesten Lorbeer um die Stirne wand, in vielen an¬
deren kündigt sich ein Gesellschaftsanatom an, der uns
vielleicht einmal den Wiener Roman schenken wird,
zu dem der „Weg ins Freie“ sich dann wie eine Sil¬
berstiftstudie verhalten mag zu einem bewegten Ge¬
mälde. Kein falscher Ton stört, keine Spur von Rou¬
tine; das Ganze ist die Frucht einer langen, nie mit
dem gemeisterten Können zufriedenen Uebung und
eines ungewöhnlichen Kunstverstandes. Die Reinheit
der Mittel ist ebenso bemerkenswert wie ihr Maß.
Das Werk wird seinen Platz in der Literatur einneh¬
men wie in der Entwicklung seines Verfassers. Ein
Werk von fast fünfhundert Seiten, so gleichmäßig und
künstlerisch im Ton, so vornehm und sorgsam in der
Mache, so von Anfang bis zu Ende festhaltend, so gänz¬
lich auf das Herausarbeiten brillanter Einzelheiten
verzichtend, so durchaus als Ganzes angelegt und als
Ganzes wirkend, will immerhin etwas besagen. Es hat
Stil. Was ihm fehlt, ist Entwicklung. War wirklich
dies mit so feinen Mitteln erreichte Ziel erstrebens¬
wert? Scheint die Kunst des reifen Schnitzler nicht
fast vergeudet gegenüber einem Stoff, dessen Stoff¬
liches der Dreißigjährige schon unvergleichlich bewäl¬
tigte? Aber er wird niemals erschöpft, dieser alte,
schwermütige „Stoff“: Eternelle et tragique ren¬
contre d’un sexe qui a sa fin en lui-mème, et de
celui qui n’est créé que pour l’autre! Cette tragé¬
die aussi vieille que le monde: le sort d’une femme
aimante, fidéle, qui a tout donné, qui s’est donnée
elle-méme, et désormais délaissée froidement
comme une fantaisie épuisée!
Joseph Hofmiller.
Freising.
liche Handlung: die Geschichte einer Liebe zwischen
einem jungen Baron und einem Wiener Bürgermäd¬
chen: wie das Verhältnis entsteht, wie es nicht ohne
Folgen bleibt, wie das Kind gleich bei der Geburt
stirbt, wie die Geschichte klanglos auseinandergeht.
Zweitens: da der Held Komponist, die Heldin Klavier¬
lehrerin und Sängerin ist, da sie beide in demselben
Kreise verkehren, da dieser Kreis literarisch und künst¬
lerisch lebhaft interessiert ist, bildet das geistige Leben
des heutigen Wien, zu einem Teil wenigstens, den
Hintergrund des Verhältnisses. Drittens: da die
Ehrenberg, Stauber, Golowski, Eißler, Nürnberger,
Wyner, Oberberger und Bermann Juden sind, zum
Teil unter ihrem Judentum leiden, fast alle es als ein
Problem empfinden, so wird die Judenfrage von vielen
Seiten beleuchtet. Aus all dem ergibt sich, daß ein
individuelles Geschick offenbar sorgsam vor die be¬
wegenden Fragen der Zeit gestellt worden ist, aber
nicht organisch verbunden, denn weder Georg noch
Anna sind Juden, sondern malerisch: als Kontrast¬
wirkung. Die Umwelt ist ohne Einfluß auf die Ent¬
wicklung des Verhältnisses; es würde mit einem ande¬
ren Hintergrunde wenig anders verlaufen. Das indi¬
viduelle Problem und das gesellschaftliche Problem be¬
rühren sich an keiner Stelle; sie schneiden sich nicht, sie
haben kein gemeinsames Segment. Damit soll nicht
etwa ein Fehler vorgeworfen, sondern nur die Ab¬
wesenheit eines Vorzugs, der Verzicht auf ein starkes
Motiv konstatiert werden.
Das Problem ist das des Liebesverhältnisses. Wenn
Oskar Ehrenberg der Reiter Amy einen Tritt gibt, so
richtet er ihr zugleich einen Handschuhladen ein. Der
Fall ist glatt; denn daß man sein Matschakerl nicht hei¬
ratet, ist klar. Wenn Heinrich Bermann seinem Ver¬
hältnis einen Tritt gibt, so ist der Fall nicht minder
klar: sie betrügt ihn; außerdem, daß man eine Schau¬
spielerin, mit der man ein Verhältnis hat, nicht hei¬
ratet, ist die Regel. Aber diese rothaarige Schmieren
komödiantin geht ins Wasser! Jetzt steht sofort das
Prohlem da: ist Bermann für diesen Tod verantwort¬
lich? Wenn Georg Wergenthins und Annas Liebe nicht
ohne Folgen bleibt, so ist der Fall nicht mehr glatt und
sind die Konsequenzen nicht mehr klar. Denn Anna ist
ein anständiges, gebildetes und liebes Mädel. Ferner:
wenn es einer Schauspielerin im allgemeinen in ihrem
Berufe nicht schadet, daß sie ein Verhältnis hat, so ist
ein Mädchen bürgerlicher Kreise, das ein Kind be¬
kommt, geliefert; sie ist unmöglich, deklassiert. Aber
wenn das Kind stirbt? Gegenfrage: hat sich dadurch
die Pflicht für Georg irgendwie geändert? nicht nur
die Pflicht gegenüber Anna, sondern die gegenüber sich
selbst? Aber, so scheint Georg einzuwenden, gerade
meine Pflicht mir selbst gegenüber fordert, daß ich,
über dies Verhältnis hinweg, meinen Wea finde, den
„Weg ins Freie". Adeliger Dilettant, belüge Dich
nicht! ruft ihm sein Gewissen zu: ob Du je ein rich¬
tiger Komponist werden wirst, ist fraglich; daß Du das
Annerl unglücklich gemacht hast, ist nicht fraglich. Aber
ist denn das Annerl so unglücklich? Ist sie nicht
sehenden Auges den Weg ihres Schicksals gegangen, mit
dem deutlichen Unterbewußtsein: heiraten wird er mich
nie? Und wiegt nicht dies Jahr des Glückes alle spä¬
tere Enttäuschung auf, alle Bitternis und allen Kum¬
mer? Fünf Möglichkeiten gibt es: 1. beide töten sich;
2. er tötet sich; 3. sie tötet sich; 4. sie heiraten; 8. sie
gehen auseinander. Lassen wir die ersten drei aus dem
Spiel: sie sind weniger glaubhaft und weniger sinn¬
reich als die zwei letzten. Es ist wahr, so geht es aus
wie das Hornberger Schießen. Aber es ist das Geschick
der wichtigsten Ereignisse des menschlichen Lebens, daß
sie fast alle mehr oder minder ausgehen wie das Horn¬
berger Schießen. Das Leben selbst hat eine fatale
Aehnlichkeit mit diesem vielberufenen Feste. Aber das
Moralische kommt zu kurz! Es ist wahr, aber dem
moralisch zusammenzulöten; seinen Bruch zürnend zu
strafen; ihn als Psychologe zu erklären. Das erste
hätte der geschickte Familienblattautor getan; das
zweite hätte der gute Volksschriftsteller getan; Schnitz¬
ler konnte, seiner ganzen Art nach, nur das dritte tun.
Vielleicht allerdings ist diese Abwesenheit des Ethi¬
schen, dieser Mangel an moralischer Resonanz ein wirk¬
licher Fehler. Aber dann ist es ein Fehler nicht nur
des Werkes und nicht nur des Autors, sondern unserer
ganzen Zeit, die ihre alten ethischen Normen über
Bord geworfen hat, ehe sie sich neue innerlich erarbei¬
tete. Als Geschöpf dieser Zeit zählt Schnitziers Buch
nicht zu jenen gleichsam zeitlosen Werken, die sich an
Freie
box 3/1
Der N
23 — eeee
eine Leserschaft überhaupt nicht zu wenden scheinen.
Es erwartet sich gebildete Frauen und Männer als
Leser. Es wendet sich noch mehr an Frauen als an
Männer; denn die Darstellung einer Leidenschaft mit
ihren alltäglichen und doch den beiden Beteiligten so
ewig dünkenden Begebnissen wird Frauen mehr als
Männer, mehr sogar als Mädchen ansprechen. Die
Männer mögen sich durch die Betrachtungen, die der
Dichter seine Personen über die Judenfrage anstellen
läßt, schadlos halten, Jünglinge die zitternde Erwar¬
tung des Anfanges, ältere das sanfte Verwehen und
Verklingen des Schlusses mit zärtlicher Schwermut ge¬
nießen. Kaum etwas ist anders als alltäglich in dieser
Erzählung. So ist das Leben, scheint Seite für Seite
zu sagen. Aber ist das Werk wirklich so ganz unpar¬
teiisch? Ist es nicht einseitig vom Standpunkt des
jungen Mannes aus geschrieben? Gleitet es nicht zu
leicht über die Kümmernisse, Aengste und Nöte der
jungen Mutter hinweg, über die Scham und Verzweif¬
lung ihrer einsamen Stunden, über die grenzenlose
Enttäuschung, da das Kind stirbt, über die böse und
wunde Bitterkeit, da sie den Mann sich von ihr lösen,
sieht, als wäre nichts geschehen? Darin liegt eine Un¬
gerechtigkeit. Denn was ihm nur Episode, war ihr der
Inhalt ihres Lebensbechers, und mit Wonne und Qual
gefüllt bis zum Rande. Dies Buch beschreibt mit sanf¬
ter Unerbittlichkeit den Verlauf einer Leidenschaft als
einer Kurve, wobei es auf der fallenden nicht minder
verweilt als auf der ansteigenden. Es urteilt nicht oder
gibt sich zum mindesten den Schein, als wolle es nicht
urteilen. Aber wer schärfer hinhorcht, der hört bald
einen leisen, warmen Unterton von Sympathie heraus,
der Sympathie des Autors für seinen Helden, der
Sympathie des Mannes für den Mann; der glaubt zu
fühlen, wie sehr Schnitzler die Partei Georgs gegen
Anna nimmt, wie er gegen das Mädchen ungerecht ist,
um seinem Helden Unbequemlichkeiten zu ersparen, wie
in Georg, ja in Schnitzler selbst immer noch Anatol
steckt.
Dies gedämpfte Buch ist frischer als manches der
konstruierten erzählenden und dramatischen Werke sei¬
nes Verfassers aus den letzten Jahren. Es hat die
Freiheit, Ruhe und Ründe der Gebärde, die, selbst bei
angeborener Begabung, nur durch nachdenkliche Uebung
erworben werden. In manchen seiner Gesprächsstellen
ist er noch ganz von der süßen Schwermut des Dramas
durchtränkt, das dem Verfasser seinen ersten und
frischesten Lorbeer um die Stirne wand, in vielen an¬
deren kündigt sich ein Gesellschaftsanatom an, der uns
vielleicht einmal den Wiener Roman schenken wird,
zu dem der „Weg ins Freie“ sich dann wie eine Sil¬
berstiftstudie verhalten mag zu einem bewegten Ge¬
mälde. Kein falscher Ton stört, keine Spur von Rou¬
tine; das Ganze ist die Frucht einer langen, nie mit
dem gemeisterten Können zufriedenen Uebung und
eines ungewöhnlichen Kunstverstandes. Die Reinheit
der Mittel ist ebenso bemerkenswert wie ihr Maß.
Das Werk wird seinen Platz in der Literatur einneh¬
men wie in der Entwicklung seines Verfassers. Ein
Werk von fast fünfhundert Seiten, so gleichmäßig und
künstlerisch im Ton, so vornehm und sorgsam in der
Mache, so von Anfang bis zu Ende festhaltend, so gänz¬
lich auf das Herausarbeiten brillanter Einzelheiten
verzichtend, so durchaus als Ganzes angelegt und als
Ganzes wirkend, will immerhin etwas besagen. Es hat
Stil. Was ihm fehlt, ist Entwicklung. War wirklich
dies mit so feinen Mitteln erreichte Ziel erstrebens¬
wert? Scheint die Kunst des reifen Schnitzler nicht
fast vergeudet gegenüber einem Stoff, dessen Stoff¬
liches der Dreißigjährige schon unvergleichlich bewäl¬
tigte? Aber er wird niemals erschöpft, dieser alte,
schwermütige „Stoff“: Eternelle et tragique ren¬
contre d’un sexe qui a sa fin en lui-mème, et de
celui qui n’est créé que pour l’autre! Cette tragé¬
die aussi vieille que le monde: le sort d’une femme
aimante, fidéle, qui a tout donné, qui s’est donnée
elle-méme, et désormais délaissée froidement
comme une fantaisie épuisée!
Joseph Hofmiller.
Freising.