I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 42

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und endlich der Dandy aus reichem jüdischen Häuse,
der ausschließlich in adligen Kreisen verkehrt und sich
Iso auf seine Weise „assimiliert“.
Zwischen allen diesen
Parteien kommt es zu Diskussionen, bei denen unser
Baron den bloßen Zuschauer und Zuhörer spielt,
Diskussionen, die, wie alle Geisteskämpfe zwischen
reifen und gebildeten Menschen damit enden, daß
jeder auf seiner Meinung beharrt. Der reine
Arier läßt es freilich an treffenden Bemerkungen nicht
fehlen und als Leitmotiv gilt der Satz: „Wo er
auch hinkam, er begegnete nur Juden, die sich schämten,
daß sie Juden waren, oder solchen, die darauf stolz
waren und Angst hatten, man könnte glauben, sie
schämten sich.“ Diese Beobachtung hat wohl etwas
Richtiges. In ihrem heutigen Stande wird die ruhige
Entwicklung der Judenfrage hauptsächlich dadurch!
beeinträchtigt, daß man sie von anderen aberwitzigen
Vorurteilen losgelöst betrachtet und als ein Problem
behandelt, was doch schließlich nur eine Frage der
zunehmenden Zivilisation und auf der anderen Seite
des zunehmenden Chauvinismus der Nationen ist, der
den Juden als Zionismus in bedauerlicherweise in
Erscheinung getreten ist. Der Dichter, der diesen
Fragen eine
große Aufmerksamkeit schenkt,
was ihm die Bartels und Konsorten (Bartels
ist sich über Schnitzlers Konfession noch nicht ganz im
Klaren) gewiß schwer nachtragen werden, hält sich selbst
in sehr reservierter Stellung; er betont nicht einmal
daß der ganze Antisemitismus doch zum größten Teile eine
Treibhauspflanze ist, die nicht selten durch die staatliche
Unmoral der prämiierten Taufe, als Entreebillet zu
allerhand Aemtern und Würden, sehr erheblich ge¬
fördert wird. Aber davon ganz abgesehen sind unsere
Debatten ein wenig vieux jeu und im Stile des alten
Romans ein wenig gewaltsam herbeigezogen. Der
Kern unserer Geschichte hat mit der Judenfrage ab¬
solut nichts zu tun, und wiederum kann es der
wienerisch=jüdischen Gesellschaft ziemlich einerlei sein,
ob unser Baron die Anna Nosner heiratet oder, wie
er es tut, sitzen läßt, um als Kapellmeister nach
Detmold zu gehen.
Georg von Wergenthin,
dieser aristokratische Dilettant und Lebens¬
künstler, dem die weiblichen Herzen
ein wenig
zu rasch entgegenfliegen,
im Grunde ein
ziemlich farbloser Charakter, weich, energielos, allen
Stimmungen unterworfen. Man darf sagen, daß er
sich das Leben ein wenig leicht macht, leichter als
seine Freunde und Genosten, unter denen der eine
und andere die Tragik des Daseins denn doch weit
stärker verspürt. Dabei soll nicht mit dem Dichter
gerechtet werden, ob der liebenswürdige Herr von
Wergenthin, den wir als elegante, ein wenig suffisante
Dons Juan=Natur schon aus Schnitzlers Erstling
dems „Anatol“ kennen, es denn verdient, in der
Oektnomie des Romans zu einer so
wesentlichen
Perkon gemacht zu werden. Vielleicht hat es den
Dichter gerade gereizt, daß solche Charaktere an
Nuancen und Zwischentönen besonders reich sind.
Aber im ganzen ist
nun doch diese Wiener
Gesellschaft in beträchtlichem Maße
gleichgültig.
Sellte sie nicht auch dem Dichter
ein wenig
indifferent erscheinen und er deshalb nicht die
nötige Wärme für ihre Schilderung aufbringen
können? Auch eine grausaum=kühle Objektivität ist
noch besser als die wohltemperierte Haltung des
Dichters, von dem wir freilich, weil er Schnitzler
heißt, sehr viel verlangen. Möglich, daß den fordern¬
den Leser der symbolische Titel des Werkes
wenig irre führt. Ein „Weg ins Freie“ muß über
Irrungen und Wirrungen, gefährliche und ver¬
schlungene Pfade, auswärts führen zu Höhen, die das
Erlebte und Geschehene tief hinter sich lassen. Ist
aber dieses Liebesverhälnis mit seinen Vorläufern
und Nuchfolgern und der kleinen Lebensversorgung am
Schlusse wirklich ein Weg, der den Helden über sich
selbst erhebt und ihn gestärkt in den Strom eines
neuen Lebens zieht? 2 # #


Deese hen euen 7e
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Der Weg ins Freie.
Wenn ein Schriftsteller wie der nun sechsundbierzig¬
jährige Schnitzler zum ersten Male einen Roman
schreibt, so ist das immerhin ein Ereignis. Wenn dieser
Roman als ein Ganzes und in allem einzelnen ein
künstlerisches Werk ist, so wird man Einwände gegen
ihn, die nicht diese künstlerische Seite betreffen, nicht
ohne Respekt vorbringen. Wenn diese inwände eine
so alte Frage betreffen wie die nach der Pflicht des un¬
ehelichen Vaters, wird man es sich dreimal überlegen,
ehe man sie äußert.
In einem der stärksten Romane des letzten Jahres
kommt diese Situation vor: Der alte Lukas Hoch¬
straßer hat erfahren, daß sein Sohn zwei Mädchen ver¬
führt hat, von denen die eine in den Tod gegangen,
die andere seine Braut gewesen ist. Er reißt ihm die
Offiziersabzeichen von der Uniform und jagt ihn aus
dem Hause.
In Artur Schnitzlers Roman kommt diese Sttuation
vor: Der alte Rosner hat erfahren, daß Baron Wer¬
genthin seine Tochter verführt hat. Er versichert ihm „in
einem Gespräche von vollkommener Aussichtslosigkeit“
mehrmals, wie peinlich, ja schmerzlich das für ihn sei,
entschuldigt sich, gestört zu haben, verabschiedet sich und
wird vom Baron bis zur Stiege hinaus begleitet.
Dies ist der Unterschied zweier Temperamente,
zweier Kunstarten, zweier Rassen, zweier Weltanschau¬
ungen. Ernst Zahn ist pathetisch, von ethischem
T
antwortlichkeitsgefühl durchdrungen, Deutschse
#
Anhänger der Vergeltungslehre. Artur Schnitz
folgt keinerlei ethische Tendenz; er ist Oesterre
Wiener, Jude, Skeptiker; als Ironiker mit leisem Un¬
terstrom von Sentimentalität steht er dem Leben ge¬
genüber: es reizt ihn, es zu malen, aber er richtet nicht
und straft nicht, wenn auch da und dort in seinem
Werke gedämpfte Anklagen und leise Verteidigungen
hörbar werden
Zur raschen Einführung in das Werk*) wird es nicht
unzweckmäßig sein, sich das Personenverzeichnis zu¬
sammenzustellen wie für einen Theaterzettel.
Georg Freiherr von Wergenthin, Komponist.
Felician Freiherr von Wergenthin, sein Bruder.
Sulonion Ehrenberg, Bankier.
Seine Frau.
Else, seine Tochter.
Oskar, sein Sohn.
Dr. Stauber, Hausarzt bei Rosners.
Dr. Berthold Stauber, Abgeordneter und Bak¬
teriologe.
Eißler sen., Walzerkomponist.
Willy Eißler, sein Sohn.
Hofrat Wilt.
Edmund Nürnberger, Schriftsteller.
Heinrich Bermann, Schriftsteller.
Anna Rosner, Klavierlehrerin.
Joseph, ihr Bruder.
Der alte Rosner.
Seine Frau.
Der alte Golowski.
Leo Golowski, Student, sein Sohn.
Therese, seine Tochter, Agitatorin.
Sissy Wyner.
Ihre Mutter.
Ihr Bruder James.
Frau Oberberger.
Demeter Stanzides.
Was hat nun Schnitzler daraus gemacht? Eigent¬
liche Handlung: die Geschichte einer Liebe zwischen
einem jungen Baron und einem Wiener Bürgermäd¬
chen: wie das Verhältnis entsteht, wie es nicht ohne
Folgen bleibt, wie das Kind gleich bei der Geburt
stirbt, wie die Geschichte klanglos auseinandergeht.
Zweitens: da der Held Komponist, die Heldin Klavier¬
lehrerin und Sängerin ist, da sie beide in demselben
Kreise verkehren, da dieser Kreis literarisch und künst¬
lerisch lebhaft interessiett ist, bildet das geistige Leben