I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 61

box 3/1
ins Freie
Der Ne
23

Ahant Kih
K/62 10—19.] Oule ###
0
Ein neuer Roman von Arthur
Schnitzler, dazu der erste große Romanz
von ihm, das ist ein literärisches Er¬

eignis, dem man mit hochgespannten Ers
wartungen entgegenkomms. An einen Dichter, des¬
uns von „Anatol“ bis zu dem obszönem ab
glänzend geschriebenem „Reigen“ nur eigenartig
und selbständige Werke geschenkt hat, kann mes
wohl besondere Anfprüche stellen. Inwiewlit
erfüllt nun der Wieser Doktor unsre Hoffnungens
Offen gestanden, zicht in genügendem Maße.
Der „Weg ins Freie“ führt uns nach
Wien, in jüdische Gesellschaftskreise der Kaiser¬
stadt. Fremde, merkwürdige Menschen lernen wir
kennen, das Buch könnte überaus interessant sein.
Woran liegt zes daß es uns doch widerstrebt,
daß es unserer Protest erregt? Schnitzler sagt
an einer Stelle von einem jüdischen Herrn, daß
er „ein Mensch war, der ununterbrochen eine
Stellung verteidigte, wenn auch ohne dringende
Notwendigkeit". Weiterhin heißt es noch un¬
umwundener: „Wo er auch hinkam, r begegnete
nur Juden, die sich schämten, daß sie Juden
waren, yder solchen, die darauf stolz waren und
Angst hätten, man könnte glauben, sie schämten sich?
Ob Dre Schnitzler, der ja selbßt jüdischer Abstammung
ist, nicht auch ein wenig die charakterifierte An¬
lage (seiner Stammesgenossen besitzt? Als Nicht¬
jude fühlt man sich immer leicht verletzt oder
„enerviert“, wie Schnitzler schreibt, wenn man all'
diese trivialen, plumpen Beleidigungen, denen
seine jüdischen Helden unaushörlich ausgesetzt sind,
liest. Was sind denn das für Menschen, die
#e andere Lebensaufgabe haben, als ihre isra¬
elitischen Mithürger ordinär und roh zu be¬
schimpfen? Gibt es in Wien nur solche
Christen? Nach Schnitzler sind es alle Anti¬
semiten, nur mit der Einschränkung, daß manche
durch Erziehung von brutalen Ausschreitungen
abgehalten werden. Eine latente Feindseligkeit
wohnt jedem inne
Manchmal vergißt man über den glänzenden
Milieuschilderungen, über der Kraft und Leben¬
digkeit der ganzen Darstellung diese ewigen Vor¬
würfe und Beschuldigungen, aber es bleibt doch
ein Nachgeschmack.
Das wäre der Gefühlsgrund, eine andere Aus¬
setzung ist in technischer Beziehung zu machen.
Der Roman ist zu lang und wirkt nicht einheitlich.
Würde man ihn in ein paar Dutzend Skizzen
oder Noveletten zerschneiden, so würde man ebenso
viel Dutzende entzückender Schnitzlerscher Kleinig¬
keiten erhalten. Liest man ihn aber als Ganzes,
so ermattet man und allmählich schwindet die
einnere Teilnahme. Nein, als Roman ist das Buch
skein Meisterstück.
Natürlich ist das Gesagte nur berechtigt, wenn
man den Maßstab anlegt, den man bei wirklichen
Dichtern anwenden darf. Der Verfasser von
*
„Sterben“, vom „Grünen Autadu", von „Frau
Bertha Gerlan“ und — last not least — „Leut¬
nant Gustl“ berechtigt eben, wie dereits oben
gesagt, zu ganz anderen Erwartungen, wie ein
durchschnittlicher Modeschriftsteller. Für den wäre
der „Weg ins Freie“ schon seines ernsten Wollens
und der vorzüglichen Sprache wegen eine rühmens¬
werte Leistung.
Telephon 1001.
#
5
Mn

I. österr. behordl. kex. Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte

O
Wien, I., Cöncordiaplatz 4.
Vertretungen
0
gffthge. Christiania, Genf, Kopen¬
4
in Berlin, Budapest-d. Mailand. Minneapolis, New-Vork.
— hagen, London, brrancisco, Stockholm, St. Petersburg.
Paris, Rom. (uelienangabe ohne Gewähr.)
Att aus:
* 4
Sm:7 7 #ergugeriseich, Wien
Theater, Kunst und Literatur.
Arthur Schnitzlers Roman.
(„Der Weg ins-Friié. Verlin, S. Fischer, 1908.)
Anatol ist alt geworden und weise. Er genießt
nicht, was ihm so aufstößt, er wählt und denkt im
Genusse. So wird ihm ein Abenteuer zum Ereignis,
beinahe führt ihn ein Kind, das seinem Bunde mit einem
sittsamen Mädchen entstammt, in die Ehe.
Dieses „Beinahe“ ist der Inhalt von Schnitzlers
neuest in Romane. In diesem „Beinahe“ liegen Ver¬
tieft gen des alten Liebelei=Motivs, wie sie nur inner¬
liches Erleben und verarbeitendes Empfinden lehren. Mit
sichtlicher Tendenz wird das sinnliche Moment des Ver¬
hältnisses zurückgedrängt, und von einem süßen Mädel
hal de klnge, bedachtsame Anna keinen Zug. Sie bleibt
allzusehr im Schatten, alles Licht fällt auf den jungen
Mann, den „beinahe“ das ernste Schicksal, Vater zu
sein, erreicht, das sich aber glücklicherweise durch den
raschen Tod des Sprößlings, nur in ein Vaterwerden
löst. Georg ist Anatol, in seiner Leichtfertigkeit des An¬
knüpfens, seinem Hinwegsetzen über äußere und innere
Bande, seinem Dilettantismus: denn gerade jene Er¬
hebung zum Künstler und Berufsmenschen, die ihm der
Dichter geben will, glaube ich nicht. Aber daß er seelische
Prozesse durchmacht, daß sie ihn bilden über das kleine
Erlebnis hinaus, das stellt ihn über den Lebenskünstler
aus Schnitzlers Frühzeit. Noch keinem Buche hat der
Dichter so viel Selbstgedachtes und Empfundenes ge¬
geben, ja, wie seine letzten Dramen, erscheint auch das
neue Buch überladen mit innerlichem, nicht restlos be¬
wältigtem Materiale. Dieser Ueberfluß strömt nicht aus
der Handlung, sondern aus den zahlreichen Nebenfiguren,
die unzählige Sprachrohre des Verfassers bilden. Es ist
der Hauptvorwurf, den ich dem Werke machen möchte,
daß sein geistiger Inhalt allzuwenig aus dem Stoffe,
sondern aus einer Unsumme von Dialogen fließt, von
Gestalten vorgeführt, die nur schwach den beabsichtigten
Kontrastwirkungen dienen, sondern nur als Reoner wirken.
So entzückende Bilder von Wien in sanften Andeutungen
entworfen werden, ein Wiener Roman ist das Buch nur
zum Teil, wo es nur einen Ausschnitt der Gesellschaft,
und diesen in einer ganz bestimmten Beleuchtung gibt.
Man vergleiche nur „Jettchen Gebert“; wie fließt da
Berlin und Judentum unabsichtlich aus den Gestalten
und Situationen. Diese organische Verbindung fehlt hier,
wo der Dichter und immer nur der Dichter spricht.
Aber wie spricht er! Alle Bedenken mögen zurück¬
treten vor der Bewunderung einer darstellerischen Kunst,
die nicht leicht ihresgleichen hat. Was Fluß der Erzäh¬
lung, stille, aber zwingende Kraft des Ausdruckes, musi¬
kalische Harmonie des Satzbaues ist, das mag man hier
studieren. Zuweilen scheint einem wohl jede Aeußerung
des Temperaments allzusehr zurückgedämmt, aber einem
aufmerksamen Ohre wird die verhaltene Kraft der Leiden¬
schaft viel zu sagen haben. Etwas von der Kunst der
Goetheschen „Wahlverwandtschaften“ lebt in diesem klaren
und doch tiefen Werke, etwas Menschliches, das weit
über dem Inhalt und der Form steht. Das Freie selbst
Schnitzler hat es noch nicht erreicht, noch liegt ei
in den Banden seines ringenden Ich; aber einen schönert
„Weg ins Freie“ ist er gegangen.
A. v. W.