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ins Freie
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(„Der Weg ins Freie.“ Roman von Artur
Schnitzler. Berlin 1908. Verlag S. Fischer.) Ein kluges
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und tapferes Mädchen, das es bis zur Doktorin der
Mathematik und Physik gebrucht, darüber aber ihr gesundes
und praktisches Urteil in allen Lebensfragen nicht eingebüßt
hat, hat mir ihre Ablehnung des vorliegenden Romans in
die folgenden einfachen Worte gekleidet: „Die Leute darin
tun nichts und haben kein Herz!“ Und wirklich kann eine
erschöpfende Kritik des Inhalts dieses Buches nur in einer
Paraphrasierung dieser beiden kurzen Sätze bestehen. Diese
Schnitzlerschen Menschen gehen neben ihrem Leben her und
schauen sich selber leben zu. Sie sind vom tiefsten Kern des
Daseins geheimnisvoll abgeschnitten. Kein großes Leid, keine
große Freude kann recht an sie heran: in irgend einem
Vorhof ihrer Seele bleiben sie wie festgezaubert stehen. „Sie
tun nichts“: sie lassen sich vom Strome der Stunden dahin¬
treiben und genießen, was ihnen das wechselnde Ufer entgegen¬
trägt, aber sie sind unvermögend, das Steuer ihres Fahr¬
zeuges mit fester Hand zu ergreifen und nach ihrem Willen
zu lenken. Sie mißtrauen ihren eigenen Empfindungen aufs
tiefste und sind imstande, sie sich völlig zu objektivieren,
ihnen wie fremden Dingen gegenüberzustehen und sich
zwischen ihnen wie in einem Museum herumzubewegen,
dessen bunte Schätze sie hier mit einer Art von Rührung,
dort mit Verwunderung betrachten. Zu den Faustischen
Müttern sind sie nie vorgedrungen, die verborgenen Quellen
des Lebens haben sie niemals rauschen gehört.... Und sie
entbehren der „Liebe“. Was sie einander in die Arme treibt,
ist eine Neugier der Sinne, nichts weiter; aber nicht jenes
mystische Opfer, das die Liebe vollzieht: die Aufopferung
des Ich an ein anderes geliebteres und höheres Ich, jenes
Opfer, das immer zugleich eine Läuterung ist. Und weil sie
jene Neugier immer weiter treibt, kennen sie auch die
Treue nicht, „die doch der Halt von allem Leben ist“.
So spricht Claudio, der Hofmannsthalsche „Tor“, und das
Elend Claudios ist es, das Schnitzlers Roman wieder neu
umschreibt. Dieses Eleno aber scheint das tiefste und
eigenste Erlebnis der beiden Wiener Dichter zu sein, das
sie nicht müde werden, zu variieren. Indessen sind wir schon
ein wenig müde geworden, ihnen dabei zuzuhören. Unsere
erste Jugend — es sind nun schon über zehn Jahre her —
tat sich nicht wenig darauf zugute, diese Subtilitäten und
Abnormitäten der Empfindung zu verstehen, und wir
meinten, mit ihrer Schilderung sei ein neues hohes Ziel
der Dichtung erreicht. Inzwischen hat uns das Leben fester
angepackt und wir haben gelernt, was einzig uns zur Er¬
füllung unserer menschlichen Pflichten, zur völligen Aus¬
schreitung des Kreises unseres Daseins befähigen kann: ein
starkes Herz und die Liebe zum Menschen. Dies aber
gerade ist es, was den Helden jener Literatue schmerzlich
fehlt, worin sie —
so unvorbildlich sind wie nur möglich. Wer
sich ihrem Umgang jahrelang mit Leidenschaft hingibt,
über den kommt es wie eine tiefe Lähmung und Erschlaffung;
der Zugang zu den Wurzeln seiner Kraft wird ihm ver¬
schüttet. Vampyrgleich saugen sie einem das beste röteste
Herzblut aus den Adern. Und wenn von den Büchern
Goethes und Gottfried Kellers behauptet worden ist, daß sie
„einem im Leben weiterhelfen und das nächste leichter
machen“ so kann von dieser Dichtung mit ihrer tiefen
Überzeugung von der Relativität aller menschlichen Lebens¬
werte das Gegenteil ausgesagt werden. Crede experto. „Wir
spielen alle; wer es weiß, ist klug.“ Die Durchdrungenheit
von dieser Quintessenz der Schnitzlerschen Dichtung genügt,
um ein Menschenleben zu vergiften. Hinweg mit solcher
Klugheit! Wir brauchen Dichtungen, die, wie die Romane
von Bartsch und Ginzkey, mit hellen Fanfarenstößer auf¬
rufen, was noch an goldener Jugendtorheit und
guten, starken, blinden Instinkten irgendwo auf dem Grund
unserer Seele schlummernd liegen mag, noch unzerstört
von dem häßlichen kalten Licht jener Pseudoweisheit;
die sich an die noch immer nicht ganz unterdrückte heimliche
Überzeugung von der Einzigkeit und tiefen Verantwortlichkeit
unseres menschlichen Daseins wenden. Zu einer solchen
Kritik der Gesinnung dieses neuen Romans von Artur
Schnitzler mögen sich nur wenige Andeutungen über die
Okonomie der Dichtung gesellen, die in ihrer Brüchigkeit mit
jener inneren Schwächlichkeit auf eine seltsame Weise
korrespondiert. Wenn man das Buch zu Ende gelesen hat,
bewahrt man die vage Erinnerung an einen gebildeten
jungen Mann aus guter Gesellschaft, der einem menschlich
fremd und trotz seiner künstlerischen Aspirationen alles in
allem reichlich uninteressant geblieben ist, der ein schattenhaft
gezeichnetes sympathisches, bürgerlich anständiges Mädchen
verführt und sich von ihr zurückgezogen hat, als sie ihm ein
totes Kind zur Welt brachte, und der zwischendurch unendlich
viel spazieren ging, um mit Menschen, die uns gleichfalls
innerlich fremd und gleichgültig blieben, hie und da ganz
interessante, aber langatmige und durch ihre Wiederholung
ermübende Gespräche über die Judenfrage zu führen. Diese
Gespräche sprengen den Rahmen der Erzählung und ver¬
stärken jenen oben geschilderten Eindruck von dem typischen
Menschen dieser gesamten Dichtung: der an seinem Leben
vorüber spazieren geht, um über Dinge zu schwätzen, die ihn
eigentlich und im Tiefsten nichts angehen....
Dr. Hermann Abell.)
ins Freie
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21 7n#71
4% 475
(„Der Weg ins Freie.“ Roman von Artur
Schnitzler. Berlin 1908. Verlag S. Fischer.) Ein kluges
3
und tapferes Mädchen, das es bis zur Doktorin der
Mathematik und Physik gebrucht, darüber aber ihr gesundes
und praktisches Urteil in allen Lebensfragen nicht eingebüßt
hat, hat mir ihre Ablehnung des vorliegenden Romans in
die folgenden einfachen Worte gekleidet: „Die Leute darin
tun nichts und haben kein Herz!“ Und wirklich kann eine
erschöpfende Kritik des Inhalts dieses Buches nur in einer
Paraphrasierung dieser beiden kurzen Sätze bestehen. Diese
Schnitzlerschen Menschen gehen neben ihrem Leben her und
schauen sich selber leben zu. Sie sind vom tiefsten Kern des
Daseins geheimnisvoll abgeschnitten. Kein großes Leid, keine
große Freude kann recht an sie heran: in irgend einem
Vorhof ihrer Seele bleiben sie wie festgezaubert stehen. „Sie
tun nichts“: sie lassen sich vom Strome der Stunden dahin¬
treiben und genießen, was ihnen das wechselnde Ufer entgegen¬
trägt, aber sie sind unvermögend, das Steuer ihres Fahr¬
zeuges mit fester Hand zu ergreifen und nach ihrem Willen
zu lenken. Sie mißtrauen ihren eigenen Empfindungen aufs
tiefste und sind imstande, sie sich völlig zu objektivieren,
ihnen wie fremden Dingen gegenüberzustehen und sich
zwischen ihnen wie in einem Museum herumzubewegen,
dessen bunte Schätze sie hier mit einer Art von Rührung,
dort mit Verwunderung betrachten. Zu den Faustischen
Müttern sind sie nie vorgedrungen, die verborgenen Quellen
des Lebens haben sie niemals rauschen gehört.... Und sie
entbehren der „Liebe“. Was sie einander in die Arme treibt,
ist eine Neugier der Sinne, nichts weiter; aber nicht jenes
mystische Opfer, das die Liebe vollzieht: die Aufopferung
des Ich an ein anderes geliebteres und höheres Ich, jenes
Opfer, das immer zugleich eine Läuterung ist. Und weil sie
jene Neugier immer weiter treibt, kennen sie auch die
Treue nicht, „die doch der Halt von allem Leben ist“.
So spricht Claudio, der Hofmannsthalsche „Tor“, und das
Elend Claudios ist es, das Schnitzlers Roman wieder neu
umschreibt. Dieses Eleno aber scheint das tiefste und
eigenste Erlebnis der beiden Wiener Dichter zu sein, das
sie nicht müde werden, zu variieren. Indessen sind wir schon
ein wenig müde geworden, ihnen dabei zuzuhören. Unsere
erste Jugend — es sind nun schon über zehn Jahre her —
tat sich nicht wenig darauf zugute, diese Subtilitäten und
Abnormitäten der Empfindung zu verstehen, und wir
meinten, mit ihrer Schilderung sei ein neues hohes Ziel
der Dichtung erreicht. Inzwischen hat uns das Leben fester
angepackt und wir haben gelernt, was einzig uns zur Er¬
füllung unserer menschlichen Pflichten, zur völligen Aus¬
schreitung des Kreises unseres Daseins befähigen kann: ein
starkes Herz und die Liebe zum Menschen. Dies aber
gerade ist es, was den Helden jener Literatue schmerzlich
fehlt, worin sie —
so unvorbildlich sind wie nur möglich. Wer
sich ihrem Umgang jahrelang mit Leidenschaft hingibt,
über den kommt es wie eine tiefe Lähmung und Erschlaffung;
der Zugang zu den Wurzeln seiner Kraft wird ihm ver¬
schüttet. Vampyrgleich saugen sie einem das beste röteste
Herzblut aus den Adern. Und wenn von den Büchern
Goethes und Gottfried Kellers behauptet worden ist, daß sie
„einem im Leben weiterhelfen und das nächste leichter
machen“ so kann von dieser Dichtung mit ihrer tiefen
Überzeugung von der Relativität aller menschlichen Lebens¬
werte das Gegenteil ausgesagt werden. Crede experto. „Wir
spielen alle; wer es weiß, ist klug.“ Die Durchdrungenheit
von dieser Quintessenz der Schnitzlerschen Dichtung genügt,
um ein Menschenleben zu vergiften. Hinweg mit solcher
Klugheit! Wir brauchen Dichtungen, die, wie die Romane
von Bartsch und Ginzkey, mit hellen Fanfarenstößer auf¬
rufen, was noch an goldener Jugendtorheit und
guten, starken, blinden Instinkten irgendwo auf dem Grund
unserer Seele schlummernd liegen mag, noch unzerstört
von dem häßlichen kalten Licht jener Pseudoweisheit;
die sich an die noch immer nicht ganz unterdrückte heimliche
Überzeugung von der Einzigkeit und tiefen Verantwortlichkeit
unseres menschlichen Daseins wenden. Zu einer solchen
Kritik der Gesinnung dieses neuen Romans von Artur
Schnitzler mögen sich nur wenige Andeutungen über die
Okonomie der Dichtung gesellen, die in ihrer Brüchigkeit mit
jener inneren Schwächlichkeit auf eine seltsame Weise
korrespondiert. Wenn man das Buch zu Ende gelesen hat,
bewahrt man die vage Erinnerung an einen gebildeten
jungen Mann aus guter Gesellschaft, der einem menschlich
fremd und trotz seiner künstlerischen Aspirationen alles in
allem reichlich uninteressant geblieben ist, der ein schattenhaft
gezeichnetes sympathisches, bürgerlich anständiges Mädchen
verführt und sich von ihr zurückgezogen hat, als sie ihm ein
totes Kind zur Welt brachte, und der zwischendurch unendlich
viel spazieren ging, um mit Menschen, die uns gleichfalls
innerlich fremd und gleichgültig blieben, hie und da ganz
interessante, aber langatmige und durch ihre Wiederholung
ermübende Gespräche über die Judenfrage zu führen. Diese
Gespräche sprengen den Rahmen der Erzählung und ver¬
stärken jenen oben geschilderten Eindruck von dem typischen
Menschen dieser gesamten Dichtung: der an seinem Leben
vorüber spazieren geht, um über Dinge zu schwätzen, die ihn
eigentlich und im Tiefsten nichts angehen....
Dr. Hermann Abell.)