I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 92

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23. Der Ne¬
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aeie
das Liebespaar müßte sich allerdings erst freiwillig melden
mag illustrieren, wie beliebt Schnitzler in Wien ist und
mit welcher Spannung nicht nur die zünftigen Literaten,
sondern Leute aus allen Gesellschaftskreisen nach einem neuen
Werk von ihm greifen. Dieser rege Anteil drückt sich ja
auch in den Daten des Fischerschen Verlagskatalogs aus:
von den neunzehn, bei dem genannten Verleger erschienenen
Büchern des Dichters ist keines bei der ersten Auflage stehen
geblieben, und einzelne, wie „Anatol“ „Leutnant Gustl“
und der jüngst veröffentlichte Novellenband „Dämmerseelen“
haben die Zehnzahl der Auflagen bereits überschritten. „Der
Weg ins Freie“ wird, wie leicht zu prophezeien ist, wahr¬
scheinlich ungeachtet seines gewaltigen Umfanges und, ob¬
gleich er schon vorher in der „Neuen Rundschau“ abgedruckt
war alle bisherigen Werke Schnitzlers (vielleicht den „Rei¬
gen“ ausgenommen) in der Auflagenzahl überflügeln.
Und doch — und doch
Gescheite Wiener Kritiker, die zumeist ins Schwarze
sreffen, wurden durch diesen Roman in helle Begeisterung
versetzt. Sie fanden in der Erzählung ein getreues Bild
Wiens und Österreichs, wie es heute leibt und lebt, eine
künstlerische Kristallisation all der verwickelten kulturellen,
ssozialen und nationalen Probleme, die uns Tag für Tag
umdrängen, eine ernste Mahnung und eine unbesiegliche
Hoffnung zugleich.
Aber — aber —
So hoch ich Schnitzler und seine Werke schätze, so muß
ich doch bekennen, daß ich diesmal mit solcher Begeisterung
nicht Schritt halten kann. Nur blinde Liebe vermag den
„Weg ins Freie“ als Kulturbild des modernen Österreich
und als fleckenloses Meisterwerk zu verhimmeln. Tiefere
Liebe, die sieht, scharf sieht, gerade weil sie verehrt, wird
neben den Vorzi## auch die Mängel gewahren und offen
davon zu reden ###gen. Vielleicht könnte zur Erklärung der
Licht= und mehr noch der Schatterseiten des Romans eine
gut erratene Entstehungsgeschichte viel beitragen. Zur Ent¬
rätselung der Genesis des Buches ließe sich, ohne Anfrage
beim Dichter, etwa vermuten: Schnitzler, der mehr und mehr
fühlt, daß ihm der Name, den er heute als einer der vor¬
nehmsten Repräsentanten des österreichischen Schrifttums
trägt, auch Verpflichtungen auferlegt — Schnitzler hat
sich unter dem Drucke dieser Verantwortung gesagt, daß die
Zeit verliebter Torheit und der bloßen Liebe, die Jugend¬
epoche mit dem tollen Reigen von Liebelei und Ehebruch
und Leichtsinn und Gedankenlosigkeit für ihn vorüber sein,
daß er auch andere Seiten von Welt und Leben betrachten
und künstlerisch verarbeiten müsse. Einem derartigen Ver¬
pflichtungsgefühl verdankt sicherlich schon „Der einsame
Weg“ sein Dasein, ganz zweifellos aber „Der Weg ins
Freie“. Die Süßigkeit und Bitternis der Liebe, ohne die
ein Schnitzlersches Werk kaum denkbar ist und die auch einen 1
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Lagesbote
Nähren und Schtent
Samstag den 22. August 1908.
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beträchtlichen Teil des neuen Buches ausfunt, sollte dies= Klub= und J
mal nicht die Hauptsache bleiben. Ein typischer, junger Vater und E
Österreicher sollte durch mancherlei Irrungen und Wirrun¬
sierte James
gen, über Lehr= und Wanderjahre hinaus, bis zur Errei= noch verschie
chung des höchsten Glückes der Erdenkinder, bis zur Ge¬
und die Da
winnung der reifen, abgeschlossenen Persönlichkeit entwickelt
Wyner, die
und vorgeführt werden. Das Schicksal dieses einzelnen aber
Therese eing
sollte sich vom groß angelegten Hintergrund seines Vater¬
sie sind aus
landes und seiner Vaterstadt abheben, mit dem wechselnden
wenigen Nich
Geschick des Individuums sollte ein farbenreiches Bild des
und undeut
österreichischen und speziell des Wiener Lebens in seinen
ihrem größte
vielfältigen Verzweigungen von Politik, Verwaltung, Ge¬
deln. Insbe
sellschaftstreiben, Kunstkämpfen, Nationalitätenproblem, In¬
von ihnen
denfrage usw. erstehen. Auch der Dichter hat seine unpoeti¬
über das I
schen Stunden, in denen er Zeitungen liest, Gesellschaften
punkt einnin
besucht, trockenen Gedankengängen nachgeht, sich mit den
von der völl
verschiedensten Problemen innerlich auseinandersetzt, auch
zeugten Assi
der Dichter lebt das allgemeine Leben aller mit. Einen
schen Jerusa
Niederschlag vieler durchdachter Stunden wollte Schnitz¬
ist kaum Üb
ler geben und das Verhängnisvolle dabei ist, einmal, daß handlung de
diese Gedankenwelt nicht restlos im Kunstwerk aufgegangen
ausmacht. F
ist, sondern daß man vielfach spürt, die Gedanken seien
Worte aus d
vorher dagewesen und nur, weil sich der Dichter über
mal den Ein
diese oder jene Frage öffentlich äußern wollte, in den Roman
sind, etwas
hineingepreßt worden, und dann, daß diese Gedankenwelt
überall die
sehr eng erscheint. Der Wunsch, Wien und durch Wien Öster¬
der Beschreil
reich im Bilde zu umreißen, es selbst ganz zu erfassen und
Abgeordnete
dann anderenfaßlich zu machen, hat gerade in jüngster Zeit
lung zum ber
besondere Werbekraft gezeigt. Hermann Bahr hat in einem
nerlich, es w
temperamentvollen, stilkunst=gesättigten Büchlein“ Anklagen
Die Pa
gegen Wiens leichte Art erhoben, Franz Servaes ist in
österreichische
einem liebevollen Werkchen““ den vielen Vorzügen und ge¬
aus der um
ringeren Mängeln Wiens und der Wiener nachgegangen,
Inkongruenz
Eugen Guglia hat sich gar mit einem ganzen Stab von
eines Politi
möglichst sachkundigen Mitarbeitern (Hevesi, Pötzl, Walla¬
cher fügt hi
schek, Zeidler, Oberhummer, Mayer, Pistor, Dreger, E.
echt wie die
Leisching, R. E. Petermann u. a.) umgeben, um in einem
Haß gegen d
sehr ausführlichen Werk## der Wiener und der österrei¬
ten Stelle
chischen Art (Geographie, Geschichte, Literatur, Musik, bil¬
Unaufrichtig
dender Kunst, Theatergeschichte, Volksleben) gerecht zu wer¬
nirgendwo a
den. Auch Schnitzlern scheint es gereizt zu haben, das ganze
Haß und ein
österreichische Wesen in einen Roman zu bannen. Das ist
der Treue.
ihm aber nicht gelungen und er ist in mancher früheren
entwickelten
Arbeit diesem Ziele näher gekommen, als gerade im „Weg
freunde hing
ins Freie". Eine der Hauptursachen des Mißlingens mag
ander. Nur b
darin gefunden werden, daß Schnitzler der Indenfrage einen
über Dinge
zu breiten Raum eingeräumt hat. Sich in dieser Frage ein¬
nigen allzu
mal gründlich auszusprechen, scheint ihm, der selbst jüdischer
nahmen gelt
Abstammung ist und doch gleichzeitig durch und durch wie¬
Kampf gera#
nerisch empfindet, ein wahres Herzensbedürfnis gewesen zu
bittertsten Ge
sein. Aber Gott sei Dank beherrscht die leidige Judenfrage
herüber flöge
unser Leben doch nicht so sehr, wie das nach dem Schnitzler¬
ist nicht