I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 94

23. Der Ne
ins Frei
box 3/1
Euanug ale Aese
Haß gegen das Talent, die sinld echt bei uns. An der zwei¬
nd der österrei= ten Stelle nennt einer Österreich das Land der sozialen
tur, Musik, bil¬
Unaufrichtigkeiten. „Hier wie nirgend anderswo (besser:
gerecht zu wer= nirgendwo anders) gebe es wüsten Streit ohne Spur von
aben das ganze Haß und eine Art von zärtlicher Liebe ohne das Bedürfnis
annen. Das ist der Treue. Zwoischen politischen Gegnern existierten oder
ancher früheren
entwickelten sich lächerliche persönliche Sympathien, Partei¬
erade im „Weg freunde hingegen beschimpften, verleumdeten, verrieten ein¬
Mißlingens mag
ander. Nur bei wenigen fände man ausgesprochene Ansichten
kudenfrage einen
über Dinge oder Menschen, jedenfalls seien auch diese we¬
ieser Frage ein¬
nigen allzu schnell bereit, Einschränkungen zu machen, Aus¬
r selbst jüdischer
nahmen gelten zu lassen. Man habe hier beim politischen
und durch wie¬
Kampf geradezu den Eindruck, wie wenn die scheinbar er¬
fnis gewesen zu
bittertsten Gegner, während die bösesten Worte hinüber und
dige Judenfrage
herüber flögen, einander mit den Augen zuzwinkerten: Es
dem Schnitzler¬
ist nicht so schlimm gemeint.“ Führt ein Kritiker zwei solche
semitismus, der
Zitate so leichthin und beispielsweise an, dann glaubt der
ische Werbekraft
Leser, sie seien aus einer wahren Fülle verwandter Beob¬
erblaßt: jüdisch¬
achtungen geschöpft. Die Sache ist aber die, daß auch der
ehemals — ju¬
erpichteste und geschickteste Sucher den zweien kaum eine
„Deutschfreiheit¬
dritte Stelle wird anreihen können. Das wäre nun noch
Christlichsozialen
kein Vorwurf. Im Gegenteil, es ist ja weitaus kunstvoller
derum mit den
und erwünschter, wenn uns ein Dichter nicht mit viel schönen
einstigen Anti¬
Reden, sondern auf indirektem Wege eine Stadt, ein Land,
Im „Weg ins
eine Welt aufbaut. Wohin aber geleitet uns Schnitzler zu
idere. Mit Aus¬
diesem (angeblichen) Zweck? Zu den Jours und Soupers
Barons Georg
einer wohlhabenden Bankiersfamilie, wo gewitzelt, gegeist¬
sind alle bedeu¬
reichelt und geflirtet wird, zum „Sacher“ ins „Imperial“,
amt und sonders
ins Literatencafé Größenwahn, in die muffigen Stuben
ollen zur Wider¬
von Stückeschreibern und Rezensenten, denen alles Leben zu
erkt man Ab¬
Literatur wird und nur die Literatur, ihre Literatur, das
Edmund Nürn¬
Leben bedeutet, ins Arbeitsgemach eines Barons, in ein
Dichtung einen
bürgerliches Zimmer und dann noch in den Prater, sowie
ts mehr schreibt,
nach Salmannsdorf und an andere reizvolle Plätze der
unge, noch eifrig
Wiener Umgebung. überall begegnen wir aber nur den
ender Skeptiker;
Beherrschern von Börse und Druckerschwärze, und tman
ßt Dr
merkt genau, daß der Dichter in dem Barons= und Bürgers¬
die
heim weniger gut zu Hause ist und dort absichtlich nicht
r. St
lange verweilt, daß er sich hingegen beim Bankier und im
Karrier
einschla¬
Café viel länger und lieber aufhält. Das ist deine Welt!
tisem
nus zu
Das heißt eine Welt?
r als
ährig¬
Durch dieses beschränkte Finanz= und Literaturmilieu
utnat
Duell
also schreitet der Baron Georg Wergenthin seinen Weg
a d
ge¬
ins Freie. Was ist das nun für eine Befreiung, die der
ese
chäft
n.
Dichter für würdig hält, umständlich erzählt zu werden?
und
„Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will
Oskar
ich hören und nicht, daß du einem Joche entronnen bist.
Lurf=,
Frei, wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber
soll mir dein Auge künden: Frei, wozu?“ Um eine Ant¬
„Städte
Wn
wort auf die Frage nach dieser Befreiung sind wir sehr ver¬
rt. 1907.
Berlin, von Franz
legen. Vergebens fragen wir den Inhalt und Ausgang des
ltur", Verlag von
Romanes danach.
08.
Den jungen Baronen Felician und Georg v. Wergenthin
Umgebung. Redi¬
ist der Vater gestorben. Felician, politischer Beamter und
verlag Gerlach

ia
Mann der geregelten Tangkeit, trägt das weniger schwer
Seite 2

als Georg, der Musiker und angehende Komponist. Das
rste Kapitel des Romans zeigt uns diesen Georg, wie e
ich von dem seit Monaten auf ihm lastenden Druck befreit
vie er wieder zu arbeiten beginnt und wieder unter Men
schen geht. Er besucht die Familie Rosner, deren sanges
kundige Tochter Anna er zu seinen eigenen Liedern au
dem Klavier begleitet, worauf er mit ihr ein Rendezvou¬
n der Miniaturenausstellung der Hofbibliothek verabredet
Im zweiten Kapitel, das mit einem Jour bei Bankier Ehren
berg beginnt, sind Georg und Anna schon auf du und di
und bald nach einem poesieumflossenen, gemeinsamen Be
such der Altlerchenfelderkirche wird sie seine Geliebte. Das
dritte Kapitel bringt eine Abschweifung: Georg unternimm
mit dem Schriftsteller Bermann, der ihm einen Opern
text verfassen will, eine Radpartie in den Wiener Wald
Unterwegs treffen sie Leo Golowski und zwischen diesen
Zionswächter und dem Zionsfeind Bermann entspinnt sich
eine Judendebatte, der Georg stumm zuhört. Im viertei
Kapitel (Souper bei Ehrenbergs, nachher Literaturcafé) ist
Anna schon schwanger. Das fünfte Kapitel hindurch begleiter
wir Geor und Anna auf einer Reise, deren Hauptstationer
Venedig, Padua, Genua, Fiesole, Rom und zuletzt Lugane
bilden. Schon hier beginnt Georgs innere Loslösung vor
Anna. Im sechsten Kapitel erwartet Anna in einem vor
Georg gemieteten Salmannsdorfer Landhäuschen ihre Ent
bindung; Georg aber reist ins Gebirge und erlebt in weni
11
gen rauscherfüllten Tagen und Nächten eine sturmdurch
tobte Liebesepisode mit einer verheirateten Frau, seines
kommenden Kindes und dessen Mutter ganz vergessend. In
siebenten Kapitel kehrt Georg von dem Ausflug ins Ge
birge heim. Im achten schenkt Anna einem Kind das Leben
das gleich nach der Geburt stirbt. So reißt das letzte Band
das Georg noch an sie knüpfte, und er geht als Kapellmeiste
in ein Engagement nach Detmold, ohne Anna seinen Na
men oder auch nur die Aussicht darauf zurückzulassen. In
neunten und letzten Kapitel sind einige Monate ins Lan
gegangen. Georg ist für wenige Tage in kapellmeisterliche
Mission in Wien, er sieht alle die Menschen und Orte wieder
die ihm lieb und vertraut waren; aber nichts hält ihn mi
stärkerer Fessel, schweigend und versteint gibt ihn die tiefst
enttäuschte, nach wie vor mit ganzer Seele an ihm hangend
Anna frei und er kehrt nach Detmold zu seinem Kapell
meisterpult und neuen Liebeleien zurück. Das ist des Ro
manes Gerippe. Also: ein Mann verläßt eine Frau, die
ihm mit innigster Liebe — nichts Köstlicheres vermag e
auf der ganzen Erde zu entdecken! — zugetan ist, nachden
sie ihm unter Qualen und Martern ein totes Kind geboret
hat. Ist das ein „Weg ins Freie“? Irgendeine Entwick
lung, Läuterung, Entbildung macht Georg in dem Romar
nicht durch. Er treibt so dahin im Meere des Lebens, ohn
auch nur den leifesten Versuch zu wagen, das Steuer seine
Boots in die Hand zu bekommen oder wenigstens zu erfahren
wohin die Reise geht. Ein Weg ins Freie wäre ein Wes
des Heranreifens von Geist, Charakter und Persönlichkeit
Nichts davon ist bei dem Komponisten Freiherrn v. Wer
genthin zu verspüren. Ihm verursachen Welt und Weib über
haupt nicht viel Kopfzerbrechen; er liebelt am Ausgang sei
ner Beziehungen zu Anna mit einer Detmolder Sängerir
gerade so, wie er am Beginn seines Verhältnisses mit Elsc
Ehrenberg und Sissy Wyner geflirtet, wie er zur Zeit vor
Annas Schwangerschaft mit Therese Golowski und noch vie
intensiver mit der Ehebrecherin vom Gebirgssee geliebelt hat
und seine ganze Metaphysik und Weltanschauung beschränk
sich darauf, daß gelegentlich einmal „ein Gefühl von dei
Traumhaftigkeit und Zwecklosigkeit des Daseins über ihr
kommt, wie dann, wenn er Wein getrunken hat“. Sein
äußeres Leben verläuft glatt und sorgenlos. Er hat von
Vater ein kleines Vermögen geerbt, das er unbekümmer
auf italienischen Reisen und anderweitig — alle Augenblick
nimmt er sich einen Fiaker — aufzehrt, und just, da sein
Geld zur Neige geht, wird ihm das gute Hoftheaterengage
ment in den Schoß geworfen. Ob es sich um Frauen oden
um Geld oder um was immer handelt, stets legt Geor#