I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 95

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haupt nicht viel Kopfzerbrechen; er liebelt am Ausgang sei¬
ner Beziehungen zu Anna mit einer Detmolder Sängerin
gerade so, wie er am Beginn seines Verhältnisses mit Else
Ehrenberg und Sissy Wyner geflirtet, wie er zur Zeit von
Annas Schwangerschaft mit Therese Golowski und noch viel
intensiver mit der Ehebrecherin vom Gebirgssee geliebelt hat,
und seine ganze Metaphysik und Weltanschauung beschränkt
sich darauf, daß gelegentlich einmal „ein Gefühl von der
Traumhaftigkeit und Zwecklosigkeit des Daseins über ihn
kommt, wie dann, wenn er Wein getrunken hat". Sein
äußeres Leben verläuft glatt und sorgenlos. Er hat vom
Vater ein kleines Vermögen geerbt, das er unbekümmert
auf italienischen Reisen und anderweitig — alle Augenblicke
nimmt er sich einen Fiaker — aufzehrt, und just, da sein
Geld zur Neige geht, wird ihm das gute Hoftheaterengage¬
ment in den Schoß geworfen. Ob es sich um Frauen oder
um Geld oder um was immer handelt, stets legt Georg
v. Wergenthin, in der Gestaltung seines inneren wie seines
äußeren Lebens, die gleiche gedankenlose Leichtfertigkeit an
den Tag und sein Freund Bermann urteilt sehr nachsichtig,
wenn er ihm am Ende des Wegs ins Freie erklärt, er,
Georg, sei „von Natur aus ziemlich leichtfertig und ein
bißchen gewissenlos angelegt“ Mögen ihn immerhin alle
Frauen — denn nicht nur Anna, sondern auch Else, Sissy,
.Therese und andere sind mehr oder weniger in ihn verliebt
— und der alte Doktor Stauber ungemein sympathisch fin=
den, auf den Leser wirkt er so recht als Gegenbild des
Ideals, das Nietzsche in seiner Predigt „Von der schenkenden
Tugend“ aufstellt, wirkt er so recht als molluskenhafter,
schwammig=verschwommener, kleinlich=egoistischer Schwäch¬
ling. Wenn er sich einmal darüber aufhält, daß man in
Deutschland bei der Erwähnung von Wien sofort an die
paar Schlagworte „Prater — Backhendel — Café — süßes
Mädel — Walzer — Fiaker“ denke, so ist gerade er, dessen
Dasein stark nach diesen Dingen gravitiert, der letzte, der
zu solcher Entrüstung ein Recht hätte. Wären wir Wiener
wirklich alle so geartet, wie dieser saftlose Vertreter, dann
verdienten wir nichts Besseres, als eine derartige Generali¬
sierung.
Ein guter Roman oder, wie gar gesagt wurde, der
erste große Wiener Romar ist demnach „Der Weg ins Freie“
nicht. Was Schnitzler hier gewollt hat, scheint ihm „über die
Kraft“ gegangen zu sein. Es ist wohl überhaupt nicht dieses
stillen, träumerischen, leisen Dichters Sache, grandiose Ge¬
dankendichtungen aufzutürmen. Seiner Art ist es vielmehr
gemäß, in traumhaftem Dämmern den Heimlichkeiten ver¬
schwiegener Seelen nachzugehen und die zarten Fäden des
dunkeln Gewebes aus Liebe, Haß, Lust, Leid und Tod zu
entwirren, nicht aber, sich in Kulturpolitik, Rassenkrieg und ##
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anderen Kampf zu stürzen. So steckt auch in dem mißlun¬
genen Roman eine der holdesten Novellen, die der Schöpfer
der Frau „Berta Garlan“ geschaffen hat, die Novelle von
der gütevollen Anna, deren liebereiches Herz in so furcht¬
barer Weise zwiefach enttäuscht wird, durch die Vergeb¬
sichkeit ihrer Hingabe und Mutterhoffnung. Sie, die liebt,
schweigt und duldet, nur um dem Geliebten nicht das Ge¬



Feuillekon=Beilage des Tagesboken aus Mähren und Se
fühl seiner völligen Freiheit zu rauben, ist eine der sü
sten, herrlichsten Gestalten, die Schnitzlern je gelungen sir
Der sanfte Heiligenschimmet, der von ihrem lieblich
Haupt ausstrahlt, beglänzt alle jene Teile des Romans, du
die sie gnadenvollen Schrittes wandelt. Sie ist eine Zw
lingsschwester von Hermann Bangs duldend verklärt
Krankenpflegerin Ida (im Roman „Ludwigshöhe"), die a
meint, es wäre so schön, wenn alle Menschen glücklich se
könnten. Ein Hauch von rührendster Mütterlichkeit umwe
diese Anna. Wie tief ergreift — um aus ihrem Reichtu
eine einzige Kostbarkeit zu nennen — die Szene am Schl
des siebenten Kapitels: Georg kehrt heim, nach einem
Taumel wilder Leidenschaft genossenen Treubruch. Auf ein
weißen Bank am oberen Ende eines leicht ansteigenden Ga
tens sitzend, erwartet ihn Anna in ihrem wallenden blau
Hauskleid, schwerfälligen, weil gesegneten Leibes. U
Georg, von einem Gemisch von Reue, Erinnerung, Zärtli
keit, Vater= und Ehemannsgefühl sowie von Schmerz üb
seine schon vollzogene innere Abwendung von Anna dur
wogt, kniet vor ihr nieder, legt stumm seinen Kopf in ihr
Schoß und weint. Nichts gesteht er, nichts fragt sie. Ab
sie weiß sofort alles und — vergibt. Wahrlich, wahrlic
entschlösse sich Schnitzler dazu, diese einfache Liebesgeschich
aus der, seiner Begabung nur gewaltsam abgerungenen ku
turell=sozialen Hülle zu schälen, sie würde ein edles Kun
werk sein und kein Fehl haftete an ihr.
Außer der hinreißenden Figur Annas spendet dem R
man noch eine zweite Sonne Licht: die zauberische Mach
die Schnitzler wiederum, wie so oft schon, in der Schilderun
der Wiener Landschaft bewährt. Wenige Sätze, und ein klaß
gezeichnetes Bild steht vor uns. Etwa der Praterstern m
den Alleen, die vom Tegetthoff=Denkmal aus strahlenförmi
hinaus ins Dunkel der Nacht führen, mit den Stadtbah
zügen, die über den Viadukt rollen, und der Menschenflu
die sich hier aus dem Prater in die einundzwanzig Bezir
Wiens wälzt. Oder der Dreimarkstein mit seinem prächtige
Ausblick über die grünen Gelände, Häuschen und Villen vo
Salmannsdorf und Neustift am Walde, mit dem ungeheuer
Wien, das heute die flächenreichste Stadt des alten Kon
tinents ist, und den in weiter Ferne verdämmernden Höhen
zügen der Karpathen, des Leithagebirges und der bläulich
schimmernden Alpen als Hintergrund. Der Wiener kan
bei Schnitzler lernen, seine schöne Heimat mit neuen Auge
zu sehen, und der Nichtwiener wird, sofern er die Donau
stadt noch nicht kennt, mächtige Lust verspüren, dieses Ver
säumnis baldigst gutzumachen.
Bliebe noch ein Wörtlein über die Form des Romane
zu sagen. Aufgebaut ist das Buch völlig tadellos. Mit spie
lender Leichtigkeit stellt Schnitzler seine Menschen vor un
hin, bringt sie miteinander in Verbindung und wechselt rasch
die Schauplätze, ohne daß der Leser irgendwo das Gefüh
der ruhigen, gelassenen Führung verlöre. In seiner Ein
leitung, seiner Steigerung und seinem Ausklang ist jede
Kapitel für sich selbst wieder ein Kunstwerk. Und weich
und sanft, wie die Teile, klingt das Ganze aus: Georg ha
noch einmal Salmannsdorf, den Sommerhaidenweg und den
Neustifter Friedhof, wo sein Kind den ewigen Schlaf schläft
besucht. Dann wendet er sich für lange — er hat einen mehr¬
jährigen Vertrag nach Detmold unterzeichnet —, vielleich
für immer zum Gehen. „Über die rötlichgelben Hügel, die
die Landschaft abschlossen, sank der Himmel im matten Herbst¬
schein. In Georgs Seele war ein mildes Abschiednehmen
von mancherlei Glück und Leid, die er in dem Tal, das er
nun für lange verließ, gleichsam verhallen hörte; und zu¬
gleich ein Grüßen unbekannter Tage, die aus der Weite der
Welt seiner Jugend entgegenklangen.“
Auch die Sprache des Romanes ist die eines guten
Erzählers, lebendig, flüssig, den Personen und Situationen
meisterhaft angeschmiegt. Um so mehr stören einige Nach¬
lässigkeiten, die zu rügen nicht kleinlich sein dürfte, weil
sich mancher Zweifelnde gerade bei Sprachsünden nach den
Dichtern richtet.
Wenn wir #um Gan#an auvitckkahrot