I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 114

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§ „Der Weg ins Freie.“

Von Ludwig Hiyschfeld=Wien.
Es ist eine rechte Freude und der feinste literarische Genuß, die
Entwicklung eines Dichters selbst mitanzusehen und mitzuerleben. Als
Zeitgenosse dem gleichsam beizuwohnen, was man in zehn oder zwanzig
Jahren in Literaturgeschichten und im Koyversationslexikon sehr nüch¬
tern und übersichtlich beschrieben lesen sann: das Werden dieses Dich¬
ters aus spielerischen Anfängen, von denen unmutig tendenziöse Ueber¬
gänge für eine Weile ins Artistische und schließlich sogar ins Ver¬
schwommene und Unverständliche führen. Und wie dann dieser Dichter
von seinem gesunden Sinn geleitet aus dem literarischen Dickicht, in
dem man das Leben vor lauter Worten und Gleichnissen und die
Menschen vor lauter Aestheten nicht sieht, plötzlich wieder heraus¬
findet, wie er sich mutig hineinstürzt in die Wirklichkeit, unbeküm¬
mert um die verwirrende Zahl von lauten und stummen Fragezeichen;
und Problemen, die hier seiner warten.
Das ist, in allgemeine Worte gefaßt, die Entwicklung Artur
Schnitzlers. In einer Spanne von kaum zwei Jahrzehnten um¬
faßt sie eine Fülle von Stufen, von Formen und Nüancen, zu deren
Ueberwindung andere ein ganzes Leben verschrieben haben, und das
hat bei manchen of##cht ausgereicht. Um sich diesen merkwürdigen
Werdegang zu veranschaulichen, braucht man ja nur irgend zwei Werke
Schnitzlers gegenüber zu halten: das bis zum Dilettantischen ehrliche
und unbeholfene Erstlingsschauspiel, das Märchen und die raffinierte
Seelenkomödie „Zwischenspiel“. Oder die gezierte und kokette Anatol¬
tändelei und den herben tiefernsten „Einsamen Weg“. Wenn man
zwei solche Werke Schnitzlers miteinander gleichsam konfrontierte, —
sie würden sich nicht erkennen, eins vom andern nichts wissen, nicht
einmal, daß sie Kinder desselben Vaters sind. Diese verblüffende
Vielgestaltigkeit und Verwandlungsfähigkeit mag ja denen um Hou¬
ston Stewart Chamberlein, die am Menschen bloß die Schädelform
und nicht seinen wahren Wert sehen, willkommener Anlaß zu allerlei
spitzfindigen Schlüssen sein. Wer jedoch einen Dichter nicht mit dem
Zirkel, sondern mit feineren künstlerischen und menschlichen Ma߬
stäben mißt, der wird sich gestehen müssen, daß man es hier mit einer
ganz außerordentlichen Begabung zu tun hat, mit einem redlichen, ge¬
wissenhaften Künstler, der unermüdlich an sich arbeitet — vielleicht
sogar mehr, als seiner Konstitution zuträglich ist.
Seitdem Schnitzler sich in dem Novellenband „Dämmerseelen“.
als Meister einer edlen und geläuterten Erzählungskunst erwiesen
hatte, und zwar in einer intensiv österreichischen, aber gar nicht mehr
jungwienerischen Weise, wußte man, was von ihm jetzt zu erwarten
sei: der große Wiener Roman, diese ungestillte literarische
Sehnsucht der letzten Jahrzehnte. An interessanten Versuchen hat es
ja nicht gesehlt, man braucht nur an den reichbegabten J. J. David
zu denken; aber in seinen Romanen fand sich doch immer nur ein mit
den enttäuschten und verbitterten Augen des Provinzlers gesehenes
Wien, während die epische Schilderung dieser Stadt gerade das Ge¬
genteil erfordert: einen zwanglosen freien Menschen, der hier aufge¬
wachsen ist, alles kennt, alles versteht und der selbst im Zorn und im
Ekel noch zu lächeln vermag. Das alles hat man Schnitzler mit Recht
zugetraut, dem reisen Mann, der die Vierzig, diese Schwelle zum
Roman, überschritten hat, und als die Kunde von seinem Buch mit
dem wunderbaren Titel vernehmlich wurde, da bildete sich zum Emp¬
fang des Werkes ganz von selbst eine Triumphpforte von Neugierde,
von Vermutung und Erwartung.
Das soll nur gleich gesagt werden: Eine leichte, aber nicht zu
verbergende Enttäuschung hat sich beim ersten Anblick eingestellt.
Der Dichter selbst trägt vielleicht weniger Schuld daran, als das
Publikum; die Erwartungen waren zu groß, zu unbescheiden. Aber
es will manchem scheinen, daß „der Weg ins Freie“ nicht der große
Wiener Roman ist, den wir alle meinten. Gewiß, er spielt im
heutigen Wien, im heutigen Oesterreich und bringt eine Ueberfülle
von frappierenden Beobachtungen und Zügen aus unserem gesell¬
schaftlichen und öffentlichen Leben. Es sind darin sogar eine Reihe
von politischen und literarischen Episoden, Typen und geflügelten
Worten verwertet, die jedem einigermaßen Eingeweihten und zum
Teil jedem Zeitungsleser bekannt sind. Und dennoch, es ist nicht
das, was wir meinten und hofften, eine künstlerische Konzentration
des nach Einheit strebenden Durcheinanders, das man Oesterreich
nennt. Kein ruhiges übersichtliches Bild des zwischen gestern und
morgen pendelnden Wien — im Gegenteil, der Fremde, der diesen
Wiener Roman liest, wird uns am Ende für noch wirrer und un¬
ruhiger halten, als wir wirklich sind.
Es ist wohl ein charakteristischer Umstand, daß man die eigent¬
liche Fabel, den eigentlichen Helden dieses Romans gar nicht als das